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Niedertracht. Alpenkrimi

Niedertracht. Alpenkrimi

Titel: Niedertracht. Alpenkrimi
Autoren: Jörg Maurer
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Blick auf die Schneefernerwand. Was wohl aus der
leblosen Person
geworden war, deren Position sie der Bergwacht damals durchgegeben hatte? Sie hatte durchs Fernrohr nur beobachten können, dass die Bergwacht die Person geborgen hatte. Sie las keine deutschen Zeitungen, sie schaute kein Fernsehen. Ob es ihm gut ging? Und wo war überhaupt der appetitliche Bursche geblieben, der manchmal Mundharmonika gespielt und immer wieder ein paar lose Buchseiten aus dem Rucksack gezogen hatte? Er hatte so hingebungsvoll gelesen!
     
    Mary-Lou hatte ganz richtig gesehen: Johnny Winterholler hing
nicht
in der Schneefernerwand. Er befand sich in gar keiner Bergwand. Er klebte in einer Ecke des Gefängnisinnenhofes der örtlichen Justizvollzugsanstalt. Er hatte sich vorgenommen, die sieben Meter hohe Mauer zu erklimmen. Er hatte, als die Aufmerksamkeit des Wachpersonals durch Harrigls wilde Horden abgelenkt war, ein paar Steine an die Wand geworfen. Da und dort war tatsächlich der Putz abgebröckelt, und es waren winzig kleine Grifflöcher für die Finger entstanden. Richtig gute Kletterschuhe mit Gummisohlen, um eine Haftreibung herzustellen, waren hier im Gefängnis nicht aufzutreiben gewesen, so hatte er seine Schuhsohlen mit Kreide eingerieben, die er aus dem Verhörraum stibitzt hatte. Johnny Winterholler hing schon in fünf Meter Höhe. Johnny Winterholler hatte einen Plan. Er hatte im Gefängnis einen Unternehmensberater kennengelernt, der ihm eine absolut sichere Geldanlage angeboten hatte. Er hatte vor, das Geld aus seinem Versteck zu holen und dieser sicheren Anlage zuzuführen. Es war vielleicht doch unsauberes Geld.
    »Winterholler, was machst denn du da oben!?«, rief der Gefängnisbeamte, der in den Innenhof getreten war. »Pack deine Sachen zusammen und geh heim. Sie haben den richtigen Mörder erwischt – du bist frei! Wenn du dich beeilst, kannst du noch ins Bierzelt gehen.«
    »Die Wand klettere ich noch zu Ende«, sagte Johnny Winterholler und machte sich an den nächsten Tritt.

    Im Bierzelt spielte die Blasmusik gerade ♫ Es gibt nur a Loisachtal alloa, a Zugspitz und oan Waxenstoa … Als jedoch die Truppe um den Kommissar hereinkam, geschah das Unvermeidliche, die Mannen um Kapellmeister Heißberger beendeten die Werdenfelser Hymne und fuhren beziehungsreich fort mit dem Jennerwein-Lied ♫ Es war ein Schütz in seinen besten Jahren, der wurd’ hinweggeputzt von dieser Welt …
    Jennerwein seufzte. Man setzte sich an den Tisch, und viele zufriedene Bürger klopften den Polizisten anerkennend auf die Schultern. Es waren dieselben Bürger, die letzte Woche noch bei Harrigls wildem Haufen mitgemacht hatten.
    »Sauber, Jennerwein!«, sagte der Hausmeister Mehl. »Hut ab! Ich werde dich für die silberne Ehrennadel der Marktgemeinde vorschlagen.«
    »Was ist eigentlich aus unserem kleinen Fräulein Michelle geworden?«, sagte Becker zum Kommissar. »Hat sie sich als Polizistin beworben? Oder will sie immer noch Pathologin werden?«
    »Ich glaube, ich habe sie schon für den Polizeiberuf begeistern können«, erwiderte Jennerwein. »Trotzdem musste ich ihr ziemlich die Leviten lesen. Verkabelt die sich und wandert als Lockvogel in der Gegend herum! Sie hätte ja bloß helfen wollen bei der Jagd nach dem Felsnischenmörder – wirklich unglaublich! Sie war total enttäuscht, dass sich der Täter nicht für sie interessiert hatte. Und dass wir ihn vor ihr geschnappt haben.«
    »Ist ja noch mal gutgegangen«, sagte Becker und erhob den Bierkrug. Duftschwaden von Steckerlfisch und Schweinshaxen durchzogen das Zelt. Die Kapelle spielte ♫ Mei Glück is a Hütterl im schönen Tirol …, alle prosteten sich zu.
    »Auf Hans, unseren unbekannten Cellospieler!«
    »Und auf Evi. Von der wir überhaupt nichts wissen.«
    »Ein Fall für Michelle, würde ich sagen.«

    Am Nebentisch saß ein Mann mit blauen Augen und leicht ergrautem Vollbart. Sein Gesicht war wettergegerbt, er hatte dunkelbraune, gelockte Haare, seine sehnigen, sonnenverbrannten Unterarme stachen aus dem hochgekrempelten Bergsteigerhemd. Er sprach harten Südtiroler Akzent.
    »Ich weiß gar nicht mehr, wo es war«, sagte er zu den begierig lauschenden Zuhörern am Tisch. »Am Shishapangma oder am Makalu, ich müsste nachschauen. Ich bin allein in einer Felsnische hängengeblieben, kein Mensch weit und breit, die Essensvorräte waren zu Ende gegangen. Ein Stückerl Traubenzucker hab ich noch gehabt – und da ist mir eine Idee gekommen. Vielleicht wars
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