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Nichts kann ich mir am besten merken (German Edition)

Nichts kann ich mir am besten merken (German Edition)

Titel: Nichts kann ich mir am besten merken (German Edition)
Autoren: Tim Frühling
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Stauverursachung begünstigt? Ist meine Rechnung nicht total schlüssig? Ich sollte Politiker werden!
    Moment, was höre ich da? Der Staat verdient durch die Mineralölsteuer vierzig Milliarden pro Jahr? Und ein großer Teil davon kommt durch die Pendler rein? Na, dann ist es wohl besser, dass ich doch nicht Politiker geworden bin …
    Nein, stattdessen bin ich nur ein teilnehmender Betrachter, der sich auf Dutzenden Seiten in unentdeckten Details verliert. Der versucht, nicht nur zu beschreiben, wie die Dinge bei uns aussehen und funktionieren, sondern auch warum . Denn hinter jedem der unentdeckten Details steckt eine Überlegung. Nichts wird in einem Land wie Deutschland dem Zufall überlassen. Kein noch so scheinbar unbedeutender Straßenzug bleibt bei genauer Betrachtung stumm, ein jeder ist in der Lage, Geschichten zu erzählen. Legen Sie das Buch doch mal kurz beiseite und werfen Sie einen Blick aus dem Fenster. Stehen in Ihrer Straße Bäume? Dann gibt es ein Amt, das weiß, wie viele und welche Sorte. Ist der Bürgersteig gepflastert? Sind die Bordsteine an Grundstücksausfahrten abgesenkt? Heben sich die Ausfahrtsbereiche vielleicht sogar farblich vom Rest des Gehwegs ab? Dann hat das irgendwer geplant. Sind die Bäume von Baumbügeln umgeben? Dann hat es jemand für nötig befunden, sie vor parkenden Autos zu schützen. Stecken Poller im Boden? Dann will jemand verhindern, dass gehalten, geschnitten oder zugestellt wird. Passen die Straßenlaternen ins Gesamtbild Ihrer Straße? Dann hat sie jemand mit Bedacht ausgewählt. Ist ein Leuchtmittel defekt? Dann wird bestimmt bald einer kommen, der es auswechselt. Sehen Sie Schilder? Bei jedem einzelnen hat man sich Gedanken über den Standort gemacht – und im Vorfeld natürlich über die Gestaltung und das Schriftbild des jeweiligen Verkehrszeichens.
    Jedem Straßenzug haben die Jahrzehnte ihren Stempel aufgedrückt. Von der Gasse bis zur Avenue – überall lassen sich die Trends der Stadtmöblierung und -planung ablesen wie die Jahresringe im Stamm eines knorrigen Baumes. Die Trumpfkarte für die Kommunalverantwortlichen der fünfziger Jahre war die autogerechte Stadt; wo es nach Kriegszerstörungen möglich war, entstanden breite Schneisen. Kopfsteinpflaster war unmodern und wurde mit Naserümpfen quittiert.
    In den sechziger Jahren bemerkte man, dass die Automobile auch irgendwo abgestellt werden mussten, und schuf Parkraum. Störende Bäume am Straßenrand wichen, bei Parkhäusern kam die Auf-und Abfahrt in Spindelform in Mode.
    Die Siebziger sind das Jahrzehnt der Fußgängerzonen. Dabei genügte es nicht, die Fahrzeuge aus den Einkaufsstraßen zu verbannen, es wurde auch viel mit öffentlichen Sitzgruppen gearbeitet. Springbrunnen waren en vogue, daneben kleine Spielplätze für die Kinder, die sich allerdings meist auf alberne Wipp-Tiere auf überdimensionierten Federn beschränkten. Kopfsteinpflaster war plötzlich wieder toll und wurde in Ornamentform verlegt. Straßenlaternen dienten nicht mehr nur der puren Beleuchtung, sie durften auch schön sein. Gullydeckel wurden mit Stadtwappen verziert.
    Spätere Fußgängerzonen aus den achtziger Jahren sind gelegentlich von kleinen Bachläufen durchzogen. Nebenstraßen erleben einen »Zone 30«-Boom. Mehr und mehr Baumbügel tauchen auf deutschen Straßen auf. Kopfsteinpflaster wird nicht nur als Ornament, sondern auch zur Verlangsamung des fließenden Verkehrs eingesetzt. Öffentliche Mülleimer wechseln ihre Farbe von grau in Signaltöne und ihr Material von Eisen in Plastik. Die Briefkästen der Post wachsen in die Breite, weil beim Einwerfen neuerdings zwischen Nah-und Fernbereich unterschieden wird.
    Die neunziger Jahre hinterlassen in unseren Städten haufenweise Spielstraßen. Die unmodern erscheinenden Fußgängerzonen aus den siebziger Jahren werden überarbeitet, um uns heute wiederum unmodern zu erscheinen. Immer häufiger werden graue Elektrokästen mittels offiziellem Rahmen zur kostenpflichtigen Plakataufhängung vermietet. Metallene oder steinerne Poller schießen aus dem Boden. Kopfsteinpflaster, das zu Verlangsamung des Verkehrs verlegt wurde, wird zurückgebaut, weil sich herausstellt, dass niemand langsamer, sondern jeder nur lauter drüberfährt. Telefonzellen verschwinden. Briefkästen werden seltener. Öffentliche Mülleimer werden in einigen Städten mit kessen Sprüchen wie »Ich bin eine Dreck-Queen«, »Alles Einwerfen ohne Nebenwirkung«, »Ich bin eine von 12000 Filialen für
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