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Nichts kann ich mir am besten merken (German Edition)

Nichts kann ich mir am besten merken (German Edition)

Titel: Nichts kann ich mir am besten merken (German Edition)
Autoren: Tim Frühling
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Klassenkameraden aus der Unterstufe kenne ich noch die Telefonnummern, rufe aber nie an, weil ich den Namen eh kein Gesicht zuordnen könnte. Um es überspitzt auszudrücken: Informationen über Menschen sind schneller vergessen als gehört, andere, geographische Fakten beispielsweise oder Eindrücke saugen sich in meinem Oberstübchen dagegen so fest, dass die Magdeburger Halbkugeln ein Dreck dagegen sind.
    Das ist nicht immer nur von Vorteil. Wenn man unglückseligerweise einen Tag in Ludwigshafen verbringt, wäre man froh, wenn man möglichst wenige Eindrücke in sich aufsaugen würde. Aber es ist nunmal so. Deswegen ist es wichtig, das Aufgesogene zu verarbeiten, zu bewerten und zu sortieren. Ist Ihnen zum Beispiel schon mal aufgefallen, dass südlich von Ludwigshafen etwas völlig Unlogisches passiert? Schauen Sie sich mal eine Postleitzahlenkarte an – und Sie wissen, was ich meine. Eine etwas größere Handvoll Orte hat plötzlich eine Postleitzahl, die mit 7 beginnt. Rheinland-Pfalz und eine 7! Früher undenkbar. Aber nach der Wiedervereinigung musste das logische System der vierstelligen Postleitzahlen ja von einem unglückseligen, fünfstelligen vergewaltigt und niedergemacht werden. Selbst der freundliche, gelbe Handschuh namens Rolf, der die schwierige Aufgabe hatte, als Maskottchen über diesen Akt der postalischen Barbarei hinwegzutrösten, konnte meine Wut über die neuen Fünf-Ziffern-Monster nicht bändigen. Früher war – jedenfalls im Westen – alles so klar: Hinten eine Null – größerer Ort. Zwei Nullen – noch größer. Drei Nullen – unfassbar groß. Orte, die sich dann sogar noch mit einer weiteren zweistelligen Zahl hinter dem Ortsnamen schmückten, hatten es im Laufe der Geschichte echt zu was gebracht. Zustellbezirk hieß das im Fachjargon. 6000 Frankfurt 40 – das klingt doch schon wie ein Synonym für »freie Reichsstadt« oder »Krönungsort der Könige«. Wie klingt dagegen 65929 Frankfurt? Kaum besser als 65451 Kelsterbach? Eben.
    Nicht nur dieses System der Logik wurde über Nacht außer Kraft gesetzt, auch mein antrainiertes Wissen, jede Postleitzahl mit mindestens einer Null am Schluss der richtigen Stadt zuordnen zu können, war reif für den Mülleimer oder fürs Vergessen – was mir leider nicht immer gelingt. Genauso absurd wie die 7 für Rheinland-Pfalz war die 8 für Teile Baden-Württembergs oder die 39 für den Norden Sachsen-Anhalts. Wenn einem die Wiedervereinigung schon sein Wissen raubt, will man doch wenigstens sofort erkennen können, was früher Zone war und was nicht. Deswegen fordere ich: Vorne die 0, die 1 oder die 9 → Zone; der Rest → West. Da höre ich übrigens gerade Beifall aus Franken aufbranden, die ihre kuschlige 8 gegen die unentschlossene OstWest-Chimäre 9 tauschen mussten.
    Wenigstens die Telefonvorwahlen sind noch ein sicherer Indikator dafür, wo der angerufene Fernsprecher steht. Wenn die Vorwahl mit 03 beginnt und sich danach eine Zahlenkette epischer Länge anschließt, landet man auf jeden Fall auf der ehemals besser ausgeleuchteten Seite des Eisernen Vorhangs.
    Für seinen Gram mit den – Achtung: Wortspiel – Post leid zahlen ist Franken allerdings großzügig entschädigt worden. Hat es doch seit der Wiedervereinigung gefühlt mehr Autobahnkilometer als Einwohner. Schon im Mittelalter war es der größte Wunsch des Menschen, so schnell wie möglich von Schweinfurt nach Ilmenau zu kommen. Zwei lupenreine Metropolen – und Jahrhunderte lang nur über Trampelpfade miteinander verbunden. Bis 2003, um genau zu sein. In diesem glorreichen Jahr wurde nämlich Deutschlands längster Tunnel eröffnet: der Rennsteigtunnel. Bedarf und Kosten waren in den wilden Jahren nach dem Mauerfall zweitrangig, deswegen waren sinnlose und besonders teure Projekte schwer en vogue: der Rennsteigtunnel. Um wenigstens einen Teil der Kosten wieder reinzuholen, hat man sich entschieden, ein sinnloses Tempolimit von 80 Stundenkilometern zu verhängen. Sinnlos deswegen, weil ich fast noch nie zwei Autos gleichzeitig die 7,9 Kilometer lange Röhre habe durchfahren sehen: Karambolage-Gefahr daher eher gering.
    Derselbe Feuereifer, der beim Bau unnötiger Routen an den Tag gelegt wurde, herrscht offenbar bei der vorsätzlichen Ignorierung dringenden Ausbaubedarfs. Und da tut sich besonders die Perle des deutschen Südostens hervor – Bayern. Natürlich ist der Bau von Bundesautobahnen Bundesangelegenheit, aber offenbar muss etwa vierzig Jahre irgendein
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