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Nichts kann ich mir am besten merken (German Edition)

Nichts kann ich mir am besten merken (German Edition)

Titel: Nichts kann ich mir am besten merken (German Edition)
Autoren: Tim Frühling
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weit größere Teile Deutschlands zu annektieren, den sogenannten Bakker-Schut-Plan. Im weitreichendsten Falle wären sogar Köln, Münster und Osnabrück an die Niederlande gegangen. Holland-Ausdehner Frits Bakker-Schut hatte sogar schon Pläne für die Umbenennung deutscher Städte ausarbeiten lassen: Köln wäre zu Keulen geworden, Osnabrück zu Osnabrugge und Mönchengladbach zu Monniken-Glaadbeek. Die Alliierte Hohe Kommission lehnte den Plan aber mit der Begründung ab, Deutschland hätte mit den 14 Millionen Flüchtlingen aus dem Osten schon genug zu tun, da müssten nicht noch weitere aus dem Westen dazukommen. Erst nach längeren Diskussionen einigte man sich 1949 auf den damaligen Grenzverlauf.
    Auch Belgien und Luxemburg streckten ihre Finger nach Ende des Krieges nach deutschem Territorium aus, stellten aber offenbar nach genauerer Überprüfung fest, dass ein paar Eifelweiler die Sache nicht entscheidend nach vorn bringen, und verwarfen die Pläne weitgehend.
    Grenzverläufe sind meistens sinnlos. Allein an der Form Chiles sieht man, dass der liebe Gott das so nicht gewollt haben kann. Weniger kompromissbereit als die Verhandlungspartner aus Benelux haben sich nach dem Krieg die sozialistischen Grenzzieher gezeigt. Zwei Beispiele für menschengemachte Sinnlosigkeit sind Steinstücken und der Entenschnabel. Steinstücken war eine Exklave im Süden Berlins, ein etwa 1000 mal 300 Meter großer Flecken Land, der zum Westteil der Stadt gehörte, aber rundum von DDR umgeben war. Die rund dreihundert Einwohner schliefen mit dem großen Zeh fast schon in Potsdam, so nah verlief die Mauer an ihren Häusern. Jahrelang konnten die Steinstückener ihren Sprengel nur über eine Straße durch die DDR verlassen oder erreichen, über und über natürlich versehen mit behördlichen Auflagen. Erst Anfang der Siebziger konnten Politiker (West) den Politikern (Ost) ein paar sinnlose Wiesen zum Tausch gegen eine Straßenverbindung von Steinstücken nach Berlin aufschwatzen. Seitdem ragte die Exklave wie eine Faust in die DDR hinein, wobei der sich anschließende Arm die Straßenverbindung nach Berlin darstellte und etwa im Bereich der Schulter der Stadtteil Wannsee begann.
    Ebenfalls aus der Anatomie entlehnt ist der Begriff Entenschnabel, der einen Wohnplatz ganz im Norden Berlins bezeichnet. Klingt süß, war aber noch absurder als Steinstücken. Hier ragte nämlich ein Stück DDR nach Westberlin hinein, was mit etwas gutem Willen oder hoher Dioptrienzahl auf der Landkarte für den Schnabel einer Ente gehalten werden konnte. (Straßenname heute: »Am Sandkrug«.)
    Da in dem etwa einhundert Meter breiten und vierhundert Meter langen Schnabel zu DDR-Zeiten etwa zwanzig Häuser standen, kam ein Gebietsaustausch nicht in Frage. Die Bewohner lebten in der höchsten Sicherheitszone, die Sperranlagen und der Sicherheitsstreifen vor der eigentlichen Mauer waren deutlich schmaler als sonst üblich. Die flachen Einfamilienhäuser standen unter grellen Grenzschutzlaternen, die sie um das Dreifache überragten. Wenn das Leben im Entenschnabel sonst auch keinen einzigen Vorteil bot: Die Stromrechnung muss unschlagbar niedrig gewesen sein.
    Das Gefühl, gut ausgeleuchtet, eingesperrt und beobachtet gewesen zu sein, wurde noch dadurch verstärkt, dass die nördlich verlaufende Westberliner Straße »Am Rosenanger« auf einem Hügel liegt. So konnten die Wessis mit Coca-Cola und Bananen in der Hand aus ihrer Hollywoodschaukel den schmalen Streifen sozialistischen Elends direkt überblicken und sich Tag für Tag darüber freuen, nicht zehn Meter weiter südlich leben zu müssen.
    Noch nicht ganz klar ist mir, zu welchem Teil Berliner Kosenamen der Entenschnabel gehört. Zu den Kosenamen, von denen Touristen nur denken, dass Berliner sie verwenden (»Schwangere Auster«, »Prenzlberg«, »Langer Lulatsch«) oder zu den tatsächlich gebräuchlichen (»Ku’damm«, »Wasserklops«, »Bierpinsel«). Leider kann ich keinen Berliner fragen, denn die sind ja so patzig.
    Das zumindest ist die Einschätzung, die man landauf, landab über die Bewohner Spree-Athens hört. Ich finde nichts alberner, als menschliche Charaktere nach ihrer Herkunft zu kategorisieren. Sitzt man mit Freunden beisammen und verkündet seinen Wegzug nach München, wird bald irgendeiner in der Runde den unvermeidlichen Satz brabbeln: »Ach, schön, die Bayern sind so gemütlich.« Hamburger dagegen sind steif, Kölner lustig, Düsseldorfer hochnäsig, Hannoveraner langweilig,
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