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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit
Autoren: Anne Chaplet
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das Geschirrtuch in der Hand, mit dem sie sich die Hände abwischte, bevor sie den Hörer aufnahm. So stellte man sich ein potentielles Mitglied des Bundestags gemeinhin nicht vor.
    »Der Mann hat sich einen Spaß draus gemacht. Erst höre ich ihn sagen: ›Sie sind Abgeordnete des Deutschen Bundestags‹.« Sie versuchte, die betuliche, sonore Stimme nachzuahmen. »Und dann: ›Hier ist der Bundeswahlleiter. Nehmen Sie die Wahl an?‹« Sie hatte »Wieso?« und »Warum?« gestottert. »›Der Abgeordnete einen Platz vor Ihnen auf der Landesliste ist unerwartet abgelebt …‹ – du hättest deine Freude an diesem feinsinnigen Sprachgebrauch gehabt.«
    »Mehr nicht?«
    »Mehr nicht.« Die Details hatte sie erst aus der Zeitung erfahren. Alexander Bunge war in Frankfurt vom Kirchturm gefallen – ob unbeabsichtigt oder freiwillig, wußte niemand, über letzte Worte oder einen Abschiedsbrief war nichts bekannt. Dennoch deutete alles auf Selbstmord hin. Das passende Motiv dafür lieferte die Geschichte, die eine Woche zuvor im »Journal« erschienen war, in der Zeitung, für die Peter Zettel arbeitete, der mit dem Bundestag von Bonn nach Berlin umgezogen war.
    »Er soll sich Kinderpornographie reingezogen haben. Aus dem Internet.« Man sah Paul an, wie befremdlich er auch nur den Gedanken daran fand.
    Anne nickte. So hatte es in der Zeitung gestanden – schwer vorstellbar, eigentlich. Der bärtige, drahtige Bunge mit dem Flair einer mittleren deutschen Führungskraft war ihr gar nicht als der Typ für so was erschienen. Aber was sah man Leuten schon an?
    Anne öffnete die Jacke, unter der ihr warm geworden war, und streckte die Beine aus. »Ganz so hatte ich mir meinen Einzug in den Bundestag nicht vorgestellt. Außerdem« – sie beschrieb mit der Linken einen Bogen, der den Hof und ihre Nachbarn, der sogar Paul Bremer umfaßte. »Außerdem werde ich das alles hier vermissen.« Sie fürchtete einen Moment lang, daß er »Mich auch?« fragen würde. Statt dessen starrte er sie lange an, sagte »Trotzdem viel Glück«, stand auf und ging zum Nebentisch.
    Anne ließ sich auf der Bank zusammensinken, so als ob sie sich unsichtbar machen wollte in der Menschenmenge um sie herum. Alexander Bunge war in den Parlamentsferien gestorben. Sie hatte deshalb zunächst niemanden erreicht, der ihr sagte, was sie zu tun hatte. Alle waren im Urlaub gewesen – in Umbrien. Oder in der Toskana. Oder in der Provence – was eben so angesagt war in ihrer Partei. Schließlich war sie allein nach Berlin gefahren, um ihren Bundestagsausweis abzuholen und sich für das Parlamentshandbuch fotografieren zu lassen. Die neuen Privilegien, samt Jahresnetzkarte für die Deutsche Bahn, wurden ihr wie ein Päckchen Kaugummi überreicht. Damals hatte sie kurz daran gedacht, den Versuch, in die Politik zurückzukehren, zum Irrtum zu erklären. Verunsichert und unzufrieden war sie wieder zurückgefahren, ohne sich mit einem ihrer alten Freunde und Bekannten in der Hauptstadt zu verabreden. Auch nicht mit Peter Zettel, obwohl sie kurz daran gedacht hatte.
    Seit einigen Wochen telefonierten sie wieder miteinander. Erst war sie abweisend gewesen, und dann hatte sie unverbindlich-freundlich getan. Er sollte schließlich nicht glauben, daß er sie verletzt hatte – daß sie noch immer verletzt war. Er hingegen hatte sich fast überschlagen vor Herzlichkeit. »Wir werden uns bald wiedersehen, Anne« – Absenken der Stimme. Und dann, bedeutungsvoll: »Hier – in Berlin.« Bei ihrem letzten Telefongespräch hatte er sich angehört, als hätte er Bunge höchstpersönlich vom Kirchturm gestürzt, nur um ihr einen Gefallen zu tun und recht behalten zu haben. »Hab ich’s dir nicht gesagt?« Erschüttert hatte ihn das Schicksal Bunges jedenfalls nicht. »Wir sehen uns wieder!«
    Sie hatte ihn längst wiedergesehen, Monate vorher, allerdings ohne daß er davon Kenntnis genommen hätte – zur ersten Sitzung des Bundestags im frisch renovierten alten Reichstag, in diesem von der Geschichte gebeutelten Gebäude, einst Symbol für das Scheitern der deutschen Demokratie.
    Anne kannte das Gebäude noch als halbe Ruine, als schwärzlicher, nur notdürftig erhaltener Klotz nördlich vom Brandenburger Tor, jenem Tor, das in den langen Jahren des kalten Kriegs zum Symbol der deutschen Teilung geworden war. Seit sich der Bundestag nach der deutschen Wiedervereinigung für Berlin als Hauptstadt entschieden hatte, war der Reichstag aufwendig umgebaut und mit einer neuen
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