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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit
Autoren: Anne Chaplet
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irgendeinem Grund gefiel er ihr plötzlich, der Schnösel mit den schönen Händen.
    Und dann hatten sie das Für und Wider der anderen Kandidaten diskutiert. Ihr Protest war halbherzig gewesen, als er »Die kann weg!« rief, just in dem Moment, in dem Eva Seng mit hoch erhobenem Haupt vorbeischritt. Dabei hatte sie die Seng schon immer für eine hohle Semmel gehalten. Aber die Abgeordnete aus Fulda konnte auf Knopfdruck Gefühle zeigen – und das mochte die Basis. Annes Stärke war das nicht.
    »Der kann weg!« hatte Peter Zettel auch noch bei zwei anderen künftigen Mandatsträgern aus Hessen gerufen. Von Alexander Bunge war, soweit sie sich erinnerte, nicht die Rede gewesen.
    Als das letzte Kamerateam, der letzte Bildfotograf abgezogen und nur noch zwei ältere Herren übriggeblieben waren, die nicht mehr ganz nüchtern auf das jüngste und sehr weibliche Mitglied der künftigen Bundestagsfraktion ihrer Partei einredeten, hatte sie sich von ihm am Arm nehmen, aus dem Saal steuern und ein Taxi herbeiwinken lassen. Sie hatte noch heute sein Gesicht vor Augen, sein ernstes, plötzlich ungeheuer jung wirkendes Gesicht, wie er sich zu ihr hinunterbeugte und sie durch die offene Wagentür hindurch fragend ansah. Sie hatte weder gelächelt noch irgend etwas gesagt, nur die Spannung gespürt bis in die Zehenspitzen. Dann war die Wagentür zugefallen. Sie war aufatmend ins Polster gesunken, hatte den Kopf an die Kopfstütze gelehnt und die winzige Spur von Enttäuschung weggewischt. Erst als die Tür auf der anderen Seite des Wagens aufging und er sich neben sie gleiten ließ, gestand sie sich ein, daß es das war, was sie wollte.
    Einen Mann – ganz einfach.
    Alles war ihr wie selbstverständlich erschienen – daß er ihre Hand nahm und dem Taxifahrer eine Adresse im Süden Bonns nannte. Die ganze Fahrt über hatten sich ihre Hände und Finger berührt, gestreichelt, erregt. Erst in seinem Appartement hatten sie sich geküßt, gleich hinter der Wohnungstür, noch bevor sie zugefallen war.
    Erschrocken legte Anne sich die Hand auf die Wange. Ihr war heiß geworden. Verlegen blickte sie auf. Linde Steinhauer stand vor ihr, hatte die muskulösen Arme in die Seite gestemmt und guckte sie herausfordernd an. »Frau Abgeordnete wirken aber sehr weit weg!«
    »Mach dir keine Sorgen, ich hebe schon nicht ab!« Anne versuchte, der Parteifreundin zuzublinzeln, aber Linde dachte nicht daran zurückzulächeln. Was vielleicht verzeihlich war – sie war damals die Unterlegene gewesen beim Kampf um einen noch halbwegs aussichtsreichen Listenplatz. Warum Anne bei der entscheidenden Abstimmung mit einer knappen Mehrheit gesiegt hatte, war ihr bis heute ein Rätsel. Schließlich war niemand im Kreisverband begeistert gewesen über den Wunsch des Parteivorstands, einer ehemaligen Politikerin Asyl zu gewähren, die vor Jahren und auch noch in einem Bundesland im hohen Norden von einem Tag auf den anderen den ganzen Bettel hingeschmissen hatte und nun wieder einsteigen wollte. Hier, in der Rhön. In einem Landstrich, in dem man erst nach mindestens dreißig Jahren Anwesenheit die bloße Anwartschaft auf Dazugehörigkeit erwarb.
    Anne rutschte auf der Bank in eine etwas bequemere Position und nahm einen tiefen Schluck direkt aus der Bierflasche. Diesen guten alten Brauch mußte sie sich wahrscheinlich auch abgewöhnen, in Berlin. In den besseren Kreisen, zu denen Volksvertreter aus irgendeinem Grund zählten. Wieder strich sie sich die Haare hinter das Ohr. Viel zu dünn, dachte sie – zu glatt, zu blond, zu schlicht für die Politszene in Berlin, für die Objektive der Foto- und Fernsehkameras und die kritischen Augen der Kolleginnen. Und eine modischere Brille könnte sie sich auch mal wieder leisten.
    Der Wind hatte nachgelassen, die Fetzen blauen Himmels über der Kastanie schienen größer geworden zu sein. Plötzlich wünschte sie sich mit einem ziehenden Schmerz irgendwo da, wo sie das Herz vermutete, hierbleiben zu dürfen und sich nicht aussetzen zu müssen – dem Neuen und dem Alten … Der Vergangenheit und der Erinnerung an eine Szene, die sie am liebsten vergessen hätte – wenn ihr das nur gelingen würde.
    Sie hatte sich damals spät in der Nacht – eigentlich war es schon früher Morgen gewesen – vor Peter Zettels Wohnungstür wiedergefunden, draußen, im dunklen Treppenhaus, die Schuhe in der Hand, der Rock verrutscht, mit von seinen Küssen schmerzenden Lippen. Auf der Flucht.
    Sie hatte zehn Minuten laufen müssen,
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