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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit
Autoren: Anne Chaplet
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bis sie ein Taxi fand, das sie zu ihrem Hotel brachte. Bonn machte auch im fahlen Morgenlicht keinen besonders einladenden Eindruck. Und plötzlich hatte sie das Gefühl angefallen, nicht nur ihre Partei und die Wähler, sondern auch die Stadt hätten sie als unwürdig abgewiesen. »Wir brauchen dich hier nicht« las sie auf den abweisenden Fassaden des Hauses der Geschichte, in den dunklen Fenstern vom Museum König. Niemand brauchte, keiner wollte sie – auch nicht der Mann, vor dem sie soeben geflohen war.
    Am nächsten Morgen starrte sie im Frühstücksraum des Hotels, in dem es nach gekochten Eiern und abgestandenem Zigarettenrauch roch, so lange in ihren Kaffee, bis er kalt geworden war und ölige Schlieren zog. Als Rena sie Stunden später im Bahnhof von Haslingen abholte, hätte sie vor Erleichterung fast geweint.
    Sie hatte wochenlang damit zugebracht, sich den Film immer wieder vorzuspielen, um endlich zu begreifen, was geschehen war. Rena war erst verständnisvoll gewesen und dann immer ungeduldiger geworden, wenn Anne wieder einmal mitten in der Arbeit innehielt und in die Luft starrte. Einmal hätte sie sich fast den halben Daumen abgesäbelt, als sie beim Schneiden von Lammkoteletts mit der Knochensäge ins Tagträumen geraten war.
    »Du bist Landwirtin, nicht Bundestagsabgeordnete!« Rena hatte hilflos und frustriert ausgesehen, die dunklen Augenbrauen zusammengezogen, der Mund ein schmaler Strich. »Dir gehört der Weiherhof, du bist Mitglied bei ›Bioland‹, deine Kälber und Schweine, deine Lämmer, Enten und Gänse sind gesund und glücklich, du hast eine Tochter, die dir den Reitstall führt, und wir verdienen genug für vier – solange du anpackst, statt verlorenen Chancen hinterherzujammern!« Sie mußte ihre Tochter völlig fassungslos angesehen haben. Rena war nach einer Weile mit gesenktem Kopf auf sie zugekommen, hatte sie ungelenk umarmt und »Geh doch einfach mal wieder Reiten!« gesagt.
    Ihre Tochter hatte geglaubt, sie trauere dem verpaßten Mandat hinterher. Anne schüttelte den Kopf. Rena wäre wahrscheinlich nicht für fünf Minuten auf die Idee gekommen, der sonst so kühlen Mutter gehe die Geschichte mit einem Mann nicht aus dem Kopf – besser gesagt: die Kränkung, die er ihr zugefügt hatte. Und die ewige Frage: Warum? Am Ende blieb ihr nur eine Erklärung – die allerkränkendste von allen. Der Gedanke daran drückte ihr auch heute noch auf den Magen. War sie schon zu alt?
    Als sie aufblickte, sah sie in die Augen Paul Bremers, der wieder diese steile Furche zwischen den Augenbrauen hatte. Wie lange er ihr wohl schon zusah? Und was hatte er gelesen in ihrem Gesicht?
    »Komm, Paul, bitte! Du guckst mich an, als ob du um meine geistige Gesundheit fürchtest!« Sie griff in ihrer Verlegenheit wieder zur Bierflasche.
    »Wenn du’s nicht selber gesagt hättest …«
    »Danke der Nachfrage! Mir geht’s prima!«
    Bremer ließ sich neben sie gleiten und zeichnete mit dem Finger Muster in die nassen Ringe, die Gläser und Krüge auf dem Tisch hinterlassen hatten.
    »Es geht dir wohl sehr nahe, oder?«
    Was zum Teufel meinte er?
    »Ich meine: Schön, daß du jetzt doch noch in den Bundestag kommst. Mehr oder weniger jedenfalls. Aber daß dafür einer abtreten mußte …«
    Sie mußte ihn für einen Moment ratlos angesehen haben. Dann hatte sie sich gefangen und nickte. Bremer dachte, im Unterschied zu ihr, ans Naheliegende.
    »Und dann auch noch – so dramatisch …« Er guckte sie noch immer an. Sag doch was, Anne, dachte sie. Etwas Pietätvolles. Und möglichst nicht die kleine, schmutzige Wahrheit, daß du nicht an den armen Verblichenen, sondern an einen Mann gedacht hast, den du noch nicht einmal einen ehemaligen Liebhaber nennen darfst, denn bevor es dazu kommen konnte, hast du die Flucht ergriffen …
    »Über die Motive gibt es wohl noch immer keine Klarheit.« Jetzt guckte Bremer so, als ob er sich wirklich Sorgen um ihren Geisteszustand machte.
    Sie riß sich zusammen und nickte. »Es kommt selten vor, daß man ein Mandat antritt, weil einer gestorben ist. Normalerweise liegt die Lebenserwartung eines Abgeordneten gut über dem Landesdurchschnitt.«
    »Wie hast du davon erfahren?«
    »Per Telefon. Morgens um halb acht.« Ihr stand vor Augen, wie sie ausgesehen haben mußte, als das Telefon klingelte. Sie war aus dem Kühlhaus gekommen, ungeschminkt, in nicht mehr ganz sauberen Leggins und einem karierten Flanellhemd, die Haare im Nacken wie üblich zusammengezwirbelt,
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