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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit
Autoren: Anne Chaplet
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Kuppel versehen worden.
    Sie hatte sich auf eine Enttäuschung gefaßt gemacht. Wahrscheinlich war von dem alten Symbol nichts übriggeblieben unter all dem Beton und der neuen Funktionalität. Aber als sie vor der sauber gebürsteten Fassade stand, vor dem Schriftzug »Dem deutschen Volke«, war ihr seltsam feierlich zumute gewesen – und als dem Bundestagspräsidenten der Schlüssel übergeben wurde, hatte sie einen Kloß im Hals gehabt. So sentimental kannte sie sich gar nicht.
    Auch innen begegnete das Neue dem Alten. Sie glaubte, unter all dem großzügig verarbeiteten Beton die Verletzungen noch sehen und spüren zu können, die dem Gebäude in seiner Geschichte zugefügt worden waren – und all den Menschen, die Teil der besseren deutschen Geschichte sind. Die Abgeordneten des Kaiserreichs, allen voran die der größten Oppositionspartei, der Sozialdemokratie. Die Abgeordneten der Weimarer Republik, von denen viel zu viele nicht begriffen hatten, welch fragiles Glück eine parlamentarische Demokratie war. Als Soldaten der Roten Armee nach dem Sieg 1945 triumphierend ihre Fahne auf das Dach des zerstörten Gebäudes setzten, das sie für ein Symbol Nazideutschlands hielten, waren sie einem Irrtum aufgesessen. Unter den Nazis tagte man hier nicht mehr.
    Plötzlich war in ihr ein verwirrendes Glücksgefühl emporgestiegen: Die rührende Vorstellung, daß es doch noch gut werden könnte für und mit Deutschland, ja, daß womöglich gerade dieses gezeichnete Haus Versöhnung zustandebringen könnte – der erfolgreichen deutschen Nachkriegsdemokratie mit der düsteren Geschichte des Landes. Sie hatte sich von ihrer eigenen Sentimentalität überwältigen lassen. Das mußte sie durchlässig gemacht haben für andere Gefühle – und damit verletzlich für die Begegnung, mit der sie doch eigentlich hatte rechnen müssen.
    »Schade, daß du nicht dabei bist«, hatte Emre Özbay gerade zu ihr gesagt, der Liebling der meisten Frauen und einiger Männer im Bundestag. Der Sohn türkischer Eltern aus Melle hatte in jenem Fragebogen, den nur Prominente zur Beantwortung vorgelegt bekommen, auf die Frage: »Wer oder was möchten Sie am liebsten sein?« mit dem politisch überaus unkorrekten Satz »Das Badewasser einer schönen Frau« geantwortet.
    »Es gäbe da die eine oder andere der lieben Kolleginnen, auf die ich zu deinen Gunsten gern verzichtet hätte.« Emre hatte sie freundschaftlich um die Schulter gefaßt. Fast wäre sie ihm um den Hals gefallen.
    Das wäre unzweifelhaft das beste gewesen, dachte Anne und hielt ihr Gesicht in den Sonnenstrahl, der durch die Krone der Kastanie zu ihr nach unten fiel. Dann hätte sie ihn nicht gesehen, wie er da stand, tief ins Gespräch vertieft. Sie mußte ihn angeglotzt haben wie ein frisch geborenes Kalb – und wäre fast mit der blöden Seng zusammengeprallt, so abrupt war sie stehengeblieben.
    Anne schnaubte. Was hatte sie bloß hysterisch reagiert – auf einen völlig unwichtigen Kerl, der sie im übrigen gar nicht wahrnahm, so intensiv redete er auf seine Begleiterin ein, eine dunkeläugige, dunkelhaarige, sportlich wirkende Frau, an der alles ausladend war – der Mund und die Nase und die Tasche, die sie unter den Arm geklemmt trug. Nur ihre Brille war unproportioniert schmal. Oder war das gerade Mode in Berlin? Emre war ihren Blicken gefolgt.
    »Kennst du Zettel, das Investigationsgenie vom ›Journal‹?« Sie hatte stumm genickt. »Die mit dem großen Mund neben ihm haben sie vom ›Magazin‹ abgeworben – für ein Spitzengehalt.« Emre streckte ihr die gespreizte rechte Hand und den Daumen der linken Hand entgegen und bewegte sie zweimal vor und zurück. Für eine sechsstellige Summe also, mit einer Zwei vorne dran. »Isolde Menzi. Das Sturmgewehr von Seite 3.« Das paßt ja wie die Faust aufs Auge, hatte Anne gedacht und sich weggedreht von den beiden.
    Sie hätte sich die Mühe nicht machen brauchen. Sie war Luft gewesen für ihn. Auch beim Sektempfang nach der Eröffnungsveranstaltung sah er nicht ein einziges Mal zu ihr hin. Wenigstens einige der Journalisten und Politiker erkannten sie wieder – sie war noch nicht so vergessen, wie sie geglaubt hatte.
    Nach zwei Gläsern Sekt und nachdem sie lange genug zugehört hatte, wie Emre und ein paar seiner Kollegen über ein Abstimmungsproblem verhandelten, das sie nicht verstand, löste sie sich aus der Versammlung und machte sich allein auf den Weg durch das Haus. Erst als sie oben auf der Terrasse stand, über der
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