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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit
Autoren: Anne Chaplet
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sich die neue Reichstagkuppel wölbte, konnte sie wieder durchatmen. Den Ausblick hatte sie noch heute vor Augen. Hinter dem Panorama von Kränen leuchteten Türme und Kuppeln in der Aprilsonne, über die ab und an dicke weiße Wolken segelten. Wie im Rausch hatte sie jedes Detail in sich aufgesogen – wie ein trockener Schwamm. Die Landfrau war eben doch noch immer ein Stadtmensch.
    Erst nach und nach hatte sie wahrgenommen, daß neben und hinter ihr eine Gruppe von Männern stand, die einem weißhaarigen älteren Herrn zuhörten, der ihr bekannt vorkam.
    »Sie sind wohl mit allen Baustellen der Berliner Republik vertraut!« sagte einer der Zuhörer. Die anderen lachten. Alle Baustellen? hatte sich Anne gefragt. Die neue alte Hauptstadt schien daraus zu bestehen – aus Baggergruben, Bauskeletten und entkernten Altbauten.
    »Mit den meisten«, sagte der alte Herr und räusperte sich. »Und mit ihrer Vorgeschichte.«
    Anne hatte die Ellenbogen auf die Balustrade gelegt und versucht, dem Blickwinkel zu folgen, den der ausgestreckte Arm des Mannes wies.
    »Schauen Sie – wie klein das Brandenburger Tor von hier aus wirkt!« Wie Spielzeug leuchteten die Viktoria und der Streitwagen mit den vier Pferden, auf dem sie stand, zu ihnen herüber.
    »Dahinter: der Pariser Platz. Und südlich davon – sehen Sie die lang geschwungene Reihe von Plattenbauten? Das ist die Wilhelmstraße.«
    »Da hat der Teufel gewohnt«, sagte eine Stimme hinter Anne. Die Stimme ließ sie frösteln. Sie drehte sich nicht um.
    Der Weißhaarige machte eine Pause. »Dort stand früher die alte Reichskanzlei.« Alle nickten. »Und im rechten Winkel dazu wurde die neue Reichskanzlei gebaut. Sehen Sie?« Anne sah nur Baukräne. »Von uns aus gesehen rechts davon lagen früher die sogenannten Ministergärten.« Wieder nickten alle. »Auf dem umzäunten Gelände vorn entsteht das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas.«
    »Und was erinnert an die Täter?« brummte der Mann hinter Anne halblaut.
    »Und dahinter? Was war da?« Anne konnte von hier oben aus nicht erkennen, welches Areal die junge Frau meinte.
    »Zu DDR-Zeiten stand dort die Mauer. Und der Todesstreifen.«
    »Und davor?«
    Der alte Herr war erstarrt. Täuschte sich Anne? Oder hatte sich der Mann sogar bekreuzigt?
    »Dort endete das ›Dritte Reich‹ in Blut und Flammen«, sagte die Stimme hinter ihr, fast tonlos jetzt.
    Anne erinnerte sich an das Stimmengewirr um sie herum und daran, daß sie sich erst später zusammengereimt hatte, was der Mann hinter ihr gemeint haben könnte. Dort, in direkter Nachbarschaft zum künftigen Mahnmal, mußte der Garten der Reichskanzlei gewesen sein, in dem Soldaten der Roten Armee die halb verkohlten Leichen gefunden hatten – von Adolf Hitler und Eva Braun, die im Führerbunker nebenan Selbstmord begangen hatten.
    Der Gedanke daran ließ sie schaudern. Sie wickelte sich fester in ihre Jacke. Die Bilder vom zertrümmerten Berlin, der Gedanke an den Schuß, mit dem der Verbrecher sein Leben beendet hatte – das alles stand ihr so lebhaft vor Augen, daß sie erschrocken aufschrie, als etwas auf ihrer rechten Schulter aufprallte, direkt neben dem Kragen ihrer Jacke. Ein Schuß? Ihre Hand faßte in etwas Warmes, Feuchtes. Dann verbreitete sich bestialischer Gestank – ein scharfer, beißender Geruch nach Ammoniak und etwas anderem, etwas Undefinierbarem und zugleich Vertrautem. Hastig sprang sie auf.
    »Was ist los?« fragte erschrocken ihre Tischnachbarin. »Was …« Und dann begann Herta zu lachen.
    Anne ignorierte Hertas Heiterkeitsanfall und schlüpfte mit zitternden Händen aus der Jacke. Über ihr rauschte es in der Kastanie. Dann flatterte eine große Elster davon, mit einem schlechtgelaunten »Krah!«.
    Anne ließ sich auf die Bank zurücksinken und nahm die Serviette, die Paul Bremer ihr entgegenstreckte, um sich die Finger zu säubern und den restlichen Elsterschiß notdürftig von ihrer Jacke zu entfernen.
    »Sei froh, daß du nach Berlin gehst«, sagte Monika Seidlitz mit gespieltem Mitleid.
    »Dort scheißen dir höchstens die Tauben auf den Kopf«, fügte Paul hinzu. »Die sind kleiner.«
    Gut, dachte Anne, wenn man Nachbarn hat.

3
    Berlin
     
    Becker klopfte mit dem Bleistift auf den Block, der vor ihm auf dem Konferenztisch lag. Er haßte die morgendlichen Sitzungen, zu denen alle zu spät kamen – außer ihm. »Des Rätsels Lösung ist: Du kommst einfach zu früh, Hansi«, hatte Jo Eyring kürzlich behauptet, ihm betont sanft die
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