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Nicht schwindelfrei - Roman

Nicht schwindelfrei - Roman

Titel: Nicht schwindelfrei - Roman
Autoren: Haymon Verlag
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brauchte Paul sich nicht aufzuschreiben, es buchstabierte sich schon eine ganze Weile in seinem Ohr.
    Er ging quer über das Feld zu einem Wasserlauf. Ein alter Eisensteg führte auf die andere Seite. Unten in der dunklen, struppigen Rinne konnte er Flüssiges erkennen, das sich regte, wulstig wie Gedärm.
    Der Weg bog in einen ausgelichteten Jungwald. An abschüssigen Stellen gab es neue hölzerne Zäune. Man war hier offenbar daran, einen Naherholungsraum zu schaffen. Paul kostete das Gebilde „Naherholungsraum“. Für alles stand ein Wort bereit: Frühblüher, Hautflügler, Patientenverfügung. Die Wörter waren schon fertig da, ausnahmslos alle, bevor man überhaupt zu reden anfing. Das Reden brachte sie immerhin ein wenig ins Wackeln.
    Pauls Kopf war nicht wählerisch in seinen Gedanken. Paul fragte sich, ob er das, was er dachte, tatsächlich auch denken wollte.
    Er ging vor sich hin. Er hätte singen mögen, unterliess es aber. Wenn er so weitermachte, lernte er auch noch fliegen. Marion würde es nicht gern sehen, wenn er das Haus durchs Fenster verliesse statt durch die Tür. Du übertreibst, Paul, würde sie sagen. Was sie sich wünschte, war eine ganz gewöhnliche Genesung. Alles andere schoss viel zu weit darüber hinaus. Extravaganzen konnten sie sich im Moment weiss Gott nicht leisten.
    Paul besuchte wie jedes Jahr eine Theatervorstellung behinderter junger Frauen und Männer. Die meisten Spieler hatten mehr oder weniger ausgeprägt den
Körperbau des Down-Syndroms.
    Paul war am Tag zuvor bei einem Gespräch der Theaterleute zu Gast gewesen. Die Mitglieder des Ensembles sassen in einem Kreis. Ein Betreuer und Co-Regisseur gab letzte Hinweise. In deiner Liebes­szene, Marie-Lou, hast du in der Nase gebohrt. Du hast dich hübsch gemacht für deinen Geliebten, wie passt dazu das Nasenbohren? Gar nicht, oder?
    Als der Betreuer die Frage wiederholte, nickte die junge Frau. Dann verbarg sie ihr Gesicht mit beiden Händen, die jetzt sehr dick aussahen, weinte kurz und blickte dann wieder auf.
    Paul staunte über die Gebärden der Spieler. Ihre Gelenke liessen Bewegungen zu, die für Menschen mit Up-Syndrom nicht nachzuahmen waren. Sie klappten die kleinen Hände aus und wendeten sie und fächerten die Finger. Die Darsteller berührten einander im Spiel mal an der Haut, mal an den Kleidern. Mit der Einrichtung seiner eigenen Hände, so kam es Paul vor, hatte er für immer etwas verpasst. Die kurz gewachsenen Frauen wackelten mit den dicken Hintern. Sie hatten eine unverfrorene Lust, sich zu zeigen. Man merkte: Auch das eifrig Angelernte gehörte im Handumdrehen ganz ihnen selbst. Noch in der komischsten Routine überlebte etwas unbestechlich Eigenes. Was Paul hier antraf, war ein Herzstück des Menschenmöglichen.
    Als er nach Hause kam, war Marion noch nicht zurück. Der Fernseher schickte seine Lichtgespenster ins Dunkle. Tom, der auf dem Teppich geschlafen hatte, zog sich an einer Sessellehne hoch und tappte auf sein Zimmer zu.
    Marion ging abends manchmal noch aus. Um sicher zu sein, dass Paul sie nicht begleiten würde, hatte sie vor ein paar Tagen den dummen Titel irgendeines dummen Films genannt. Im Mantel winkte sie dann noch in die Küche herein. Paul hätte sich durchaus einmal für einen dummen Film mit dummem Titel entscheiden können. Er war aufgestanden, und da er schon mal stand, räumte er gleich das Geschirr ab. Er vermutete, dass Marion sich mit einem Mann traf, der ihr keine Sorgen machte. Paul fragte sich oft, wie er seiner Frau das Leben leichter machen konnte. Er kannte die Antwort: indem er wieder regelmässig zur Arbeit ging.
    Wenn Marion nicht zum Nachtessen kam, verhindert im letzten Moment, und Paul mit Tom allein war, wunderte er sich zuweilen, dass da ein Junge mit ihm hauste, der dazu noch sein eigener war,.
    Sie assen überbackene Auberginen. Tom orientierte den Vater über den Stand der Rollbretttechnik. Das hiess, dass er sich ein neues Rollbrett wünschte. Nun war sein Geburtstag aber eben vorbei und Weihnachten fern. Daraus ergab sich ein Problem.
    Es sollte da einen Joker geben, sagte Tom.
    Der Gedanke leuchtete ein. Paul sagte: Den sollte es geben.
    Toms Vorschlag war: Jeder hat jedes Jahr einen Gutschein für ein Geschenk einfach so.
    Nachdem der Junge den leer gegessenen Teller flüchtig abgespült hatte, blieb Paul allein in der Küche zurück.
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