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Nicht schwindelfrei - Roman

Nicht schwindelfrei - Roman

Titel: Nicht schwindelfrei - Roman
Autoren: Haymon Verlag
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dem ein Paar sich spiegelte samt Küchenschrank und Ratlosigkeit.
    Am nächsten Morgen schien die Sonne auf den Küchentisch. Sie gab jedem Schatten den Platz, der ihm zukam. Tom stand an die Tischkante gelehnt und sprach mit vollem Mund. Seine Eltern sassen, sie schauten auf ihr Frühstückshandwerk oder schräg zu Tom empor.
    Der Junge war schon auf der Treppe, als Paul hinter ihm her rief: Hast du das Turnzeug dabei?
    Morgen, morgen, rief Tom zurück.
    Marion sagte: Heute ist erst Donnerstag.
    Eben, sagte Paul.
    Turnen ist am Freitag, das weisst du doch.
    Ja, weiss ich.
    Schon vergangene Woche hatte Tom festgestellt:
Du lässt den Donnerstag aus, Papa. Der Junge reckte das Kinn: Mir wäre es recht, wenn es den gar nicht gäbe.
    Und mir würde er sehr fehlen, sagte Marion. Ich liebe den Donnerstag.
    Tom fragte: Wenn man ihn wegstreichen würde, in allen Kalendern auf der ganzen Welt, was würde geschehen?
    Dann gäbe es einen Ruck in der Zeit, meinte Paul. Die Astronomen würden staunen. Eine Lücke regelmässig am Mittwoch um Mitternacht.
    Würde mit dem Donnerstag auch sein Name verschwinden?
    Zu dritt waren sie sich einig: Auf den Namen wollten sie nicht verzichten.
    Marion, schon im Mantel und mit Tasche, sagte: Also wird man auch den Tag behalten müssen. Sie liess ihre Behauptung in der Küche zurück.
    Paul dachte darüber nach. Am Ende entschied er, dass auf Marion in solchen Dingen Verlass sei.
    Jeudi, jeudi: Die französische Version ergab einen helleren Tag.
    Paul langte nach dem Fotoalbum, das seit Tagen herum, und das heisst bereit lag. Menschen, zu denen er selbst gehörte, beim Stehen und Sitzen, Gehen und so weiter, und meist auch beim Lächeln fotografiert. Sie standen um ihn herum, da und da und dort, alle erreichbar, und hatten doch etwas von Verwandten aus Übersee. Paul notierte sich das Wort „Übersee“ und den schönen lang gestreckten Ausdruck „überseeische Gebiete“. Er blätterte. Theo, die Teppichstange in der Kniebeuge, hing verkehrt herum in der Luft. Paul in derselben Position mit hinter dem Kopf verschränkten Armen. Übermütig zusammengedrängte Menschen auf einer Bank, Mutter, unpassend ernst, auf Vaters Knien.
    Theo hatte über die fehlenden Fotos einigermassen Bescheid gewusst. Mutters Schwester Ursula war da abgebildet gewesen.
    Tante Ursula!, sagte Paul.
    Theo sagte: Angefangen hat das alles mit einem Streit um Grossmutters Erbe, um ein bestimmtes Erinnerungsstück. Der Name Ursula war dann bei uns wie ausgelöscht. Wir wollten die Tante heimlich besuchen, wir zwei, doch da war sie schon fort, ausgezogen, nach Brissago, glaube ich.
    Ach, sagte Paul. Ihm war ein Licht aufgegangen, es beleuchtete den Namen Ursula. Nach einer Weile erreichte ihn vom Rücken her eine Trauer, ein wachsender Schatten, und blieb.

I n der Strassenbahn, im hinteren Wagen, stand eine Frau neben ihm, die ihn sofort sehr für sich einnahm. In einen wetterfesten Mantel verpackt schaute sie durch die rückwärtige Scheibe auf die länger werdenden Gleise. Auch Paul schaute hinaus. Zwischendurch betrachtete er ihr Profil, den Übergang von der Stirn zur Nase, von der Nase zum Mund, vom Mund zum Kinn. Er folgte diesem Weg bis an die Stelle, wo er in einem bunten Schal verloren ging.
    Paul sagte: Sie machen mir Eindruck.
    Sie drehte ihm das Gesicht zu. Ihr Mund sah jetzt aus, als hätte sie ihn soeben und für längere Zeit geschlossen.
    Sie sind eine besondere Frau, stellte er fest. Ich werde Sie nie vergessen.
    Oh!, sagte sie erschrocken.
    Ein Mann, der in einer grossen Hand ein winziges Telefon hielt, stellte sich zwischen die beiden. Als er ausgestiegen war, sagte Paul: Eine Allerweltsfrau sind Sie jedenfalls nicht.
    Ein spöttisches Lachen misslang ihr. Sind Sie ein Menschenkenner?
    Einige kenne ich schon.
    Sie lächelte, behielt das Lächeln eine Weile um ihren Mund, während sie den Halteknopf drückte. Sie stellte sich an die Tür.
    Er sagte: Ich möchte Ihr Begleiter sein, und ging hinter ihr her in den Regen hinaus. Sie spannte einen Schirm auf. Paul folgte ihr in eine Querstrasse und schliesslich durch ein niedriges Gartentor unter ein Vordach.
    Um ihre Hände für den Briefkasten frei zu bekommen, reichte sie Paul den Schirm, den er ein paar Mal auf- und zuflattern liess und dann schloss. Die Post in der Hand stiess sie mit der Schulter die Haustüre auf und hielt sie,
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