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Nicht schwindelfrei - Roman

Nicht schwindelfrei - Roman

Titel: Nicht schwindelfrei - Roman
Autoren: Haymon Verlag
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Er verlor den Appetit und den Mut und blickte durch das Fenster in die Nacht, sah sein Spiegelbild in der Scheibe, sah sich selbst wie an einem Nebentisch. Sein Spiegelbild stocherte in einer schwarzen Masse herum und legte dann die Gabel weg. Am Kühlschrank, befestigt mit vier Magneten, hing eine Zeichnung von Tom, die in der Schule entstanden war. Bunte Blätter, mit Farbstiften abgemalt im vorletzten oder vorvorletzten Herbst. In einem der Herbste.
    Paul empfahl sich selbst ein warmes Bad. Er streckte sich im Wasser aus. Die Wärme wickelte ihn ein, liess ihn ganz allmählich dumm und dankbar werden. Paul dachte sich tief in die Finsternis seiner inneren Organe, in ihre Stollen, Knollen, Höhlen. Er brauchte sich nicht auszukennen in ihrem Gewühl. Sie wussten stets genau, was gerade zu tun war.
    Am unteren Wannenrand tauchten zwei Füsse auf, die zweifellos zu ihm gehörten. Es war so viel Verschiedenes an einem dran, dass man dies oder jenes zwischendurch schon mal aus den Augen verlieren konnte. Die beiden Füsse am unteren Ende des Körpers kamen ihm fremd vor.
    Vielleicht gehörte es zu diesen von der Leibesmitte weit abgelegenen Gebilden, Gliedmassen, dass sie Fremdkörper waren. Dennoch: sich an die eigenen Füsse kaum oder gar nicht zu erinnern, war ein starkes Stück. Die Schuhe, es handelte sich um mehrere Paare, vergass er nie. Es konnte geschehen, dass er ein Paar antraf, mit dem er nicht mehr gerechnet hatte. Doch stets erkannte er seine Schuhe wieder, spätestens wenn er sie anzog. Ausserdem hatte er nicht vergessen, wie man beim Binden der Schuhe vorging.
    Vieles, was ihn im Badezimmer umgab, gehörte zu Marion, zu diesem anderen Leben dicht neben dem seinen. Stumpf und zufrieden schaute Paul sich um. Es wurde kühler um ihn. Er zog den Stöpsel aus und verharrte, bis er frierend in der letzten Pfütze sass.
    Ein paar Tage später schrieb Paul einen Artikel über die Theatervorführung der Behinderten: „Unbehinderte Spiellust“. Er schickte den Bericht an seine Zeitung, zuhanden seines Kollegen Steff, der sofort und trocken klarstellte, was Paul eigentlich hätte wissen müssen: Erstens gehörte der Artikel ins Ressort Lokales und zweitens war er schon nicht mehr aktuell.
    Pauls Eltern luden, anlässlich von Vaters Geburtstag, zu einem sonntäglichen Mittagessen ein. Tom, der sich die Übertragung eines Fussballspiels hätte ansehen wollen, war verstummt und verstockt.
    Angeregt von der Donaureise hatte die Mutter ein „echtes ungarisches Gulasch“ gekocht. Beim Auftragen der Schüssel buchstabierte sie das Wort „gulyás“. Eine Haarsichel fiel ihr über die rote Stirn und der Nase entlang. Der Vater schrieb die fremde Buchstabenfolge auf die Rückseite des bunten Papiers, das ein Geschenk von Theo eingehüllt hatte, Fotos von Berg­blumen mit passenden Versen. Theo ergänzte den Akzent auf dem a, der dem Vater überflüssig vorkam.
    Tom kannte einen ungarischen Fussballspieler namens Tamás Hajnal und den deutschen Club, in dem er spielte. Theo wiederholte den Namen des Sportlers und nickte. Tamás Hajnal trug wohl dazu bei, dass Tom sich auf das Gulasch einliess und dass er die Zwiebeln nicht an den Tellerrand schob.
    Als sie beim Kaffee angelangt waren, brachte die Mutter ein Fotoalbum und setzte sich damit neben Paul. Als gäbe es etwas zu enthüllen, legte sie beide Hände auf den lederigen Umschlag. Sie eröffnete die Besichtigung des Albums, indem sie mit einem Finger den Deckel hob und damit ein Hochzeitspaar freilegte.
    Wer um Himmels Willen ist denn das?, fragte der Vater scherzhaft. Die Eltern schauten einander an, ihre Augen glänzten sich zu.
    Paul merkte, dass hier eine Prüfung in Gang kam. Was geprüft wurde, war sein Gedächtnis. Uh!, sagte er, ihr habt euch aber verändert. Ihr lächelt viel schöner heute.
    Der Vater lachte laut. Die Mutter, schon wieder ernst, schlug die nächste Seite auf. Sie stutzte, im Moment schien sie selbst nicht mehr zu wissen, wer der sehr junge Mensch mit den zu Fäustchen eingezogenen Fingern war.
    Der Vater sagte: Das ist keiner von uns, das ist doch die Dings von deiner alten Freundin, die mit dem
Blumenladen.
    Richtig, sagte die Mutter. Sie blätterte rasch die Seite um. Wieder zwei Fäustchen, die aus handgestrickten Ärmeln kamen. Das ist Theo, entschied die Mutter.
    Paul zeigte auf die Seite gegenüber: Und
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