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Nibelungen 01 - Der Rabengott

Nibelungen 01 - Der Rabengott

Titel: Nibelungen 01 - Der Rabengott
Autoren: Kai Meyer
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könnte sagen, daß ich eine gewisse Übung darin habe, arme Menschen vom Fluch der Toten zu reinigen. Aber ich muß zugeben, daß es lange Zeit zurückliegt, seit ich dergleichen gewagt habe.«
    Hagen spürte, daß ein zaghaftes Zittern durch seine Glieder strömte.
    »Ist Euch kalt?« fragte Morten. »Wartet, ich helfe Euch hinüber zum Kamin.«
    Der Priester nahm ihn bei der linken Hand. Mit der Rechten stützte Hagen sich auf den Speer, benutzte ihn wie eine Krücke, während er dem Mann die wenigen Schritte zum Kaminfeuer folgte.
    »Laßt mich Holz nachlegen«, sagte Morten und ließ Hagen los.
    Unruhig tastete Hagen die Hand vor, berührte die Kutte des Priesters. Morten hockte vor ihm am Boden, hatte ihm den breiten Rücken zugewandt. Holzblöcke polterten in die Flammen, es knisterte.
    »Es ist feucht hier oben, das tut weder uns noch dem Feuer gut.« Er schien mit irgend etwas in der Glut zu stochern.
    »Es tut mir leid«, sagte Hagen.
    »Was meint Ihr?« fragte Morten, immer noch mit dem Kamin beschäftigt. »Daß die Flammen so leicht ausgehen? Daran trifft Euch nun wahrlich keine Schuld.«
    »Nein«, sagte Hagen leise. Und nochmal: »Es tut mir leid.«
    Dann nahm er den Speer in beide Hände, zielte blind und rammte ihn dem Priester zwischen die Schulterblätter.
     

     
    Er fror, als er hinaus auf die Straße trat. Ein eiskalter Wind peitschte vom Fluß herüber durchs Dorf, heulte in den verwinkelten Gassen und Treppenfluchten, pfiff durch morsche Dächer und klappernde Fensterläden. In der Ferne schlugen Hunde an, irgendwo am Ufer, bei den Fluchthütten. Die Strömung sang ein klagendes Trauerlied, durchsetzt vom Wispern und Kichern der Geister. Stimmen voller Häme, Gesänge aus der Tiefe des Leids.
    Hagen schulterte den Goldsack und tastete sich mit dem blutigen Speer die Straße entlang. Mehrmals drohte er zu stolpern, doch sein Wille trieb ihn weiter voran. Er hörte, wie über ihm am Himmel die Raben krächzten, doch keiner von ihnen kam näher oder setzte sich auf seiner Schulter nieder. Er flößte sogar den Tieren Furcht ein, hager und ganz in Schwarz, bis zum Scheitel mit Mortens Blut besudelt.
    Er folgte dem Glühen vor seinem rechten Auge und wußte, daß es ihn nach Süden führte, zum unteren Ende der Landzunge. Die Dorfstraße verlief vollkommen gerade, Hagen stieß nirgendwo an. Gut möglich, daß ein anderer ihm den Weg wies; jemand, der sich vor Gier und Vorfreude verzehrte. Der Fluß war unersättlich. Forderte, forderte.
    Das Gelände stieg kaum merklich an. Hagen mußte die Häuser hinter sich gelassen haben. Der Schimmer vor seinem Auge schien zum Leben zu erwachen, er begann jetzt zu zucken, zu flackern. Fauchen und Knistern lag in der Luft. Tannennadeln knallten, als die Flammen auf sie übergriffen. Es wunderte Hagen nicht mehr, als die gelbrote Helligkeit sich bei seinem Näherkommen aufspaltete. Aus einem Feuer wurden fünf. Fünf brennende Tannen.
    Hitze schlug ihm entgegen und vertrieb die Kälte der Nachtwinde. Nur das Eis in seinem Innerem ließ die Wärme unangetastet.
    Als die Glut auf der Haut fast unerträglich wurde, blieb Hagen stehen. Er stützte sich schwer auf Mortens Speer und wuchtete den Goldsack auf den Boden. Münzen und Geschmeide klirrten beim Aufprall.
    Die Stimmen der Flußgeister wirbelten in seinen Ohren, drifteten auseinander, fanden neue Form, verdichteten sich, mal zu unverständlichen Worten, dann wieder zum Rauschen der Strömung.
    Nimmermehr war plötzlich neben ihm.
    »Sag, Hagen, wie lange ist es her, daß du begonnen hast, für Gold zu morden?«
    Ihre Stimme: so leise, so zaghaft, so sanftmütig.
    Hagen war müde, die Erschöpfung schwächte seine Sinne. »Ich hatte nie eine andere Wahl.«
    Der schwarze Abgrund vor seinem zerstörten linken Auge wurde allmählich von dem Flackern von rechts verdrängt. Was immer in der Tiefe gelauert hatte – es würde entweder von dem Licht emporgespült oder vernichtet werden.
    »Aber wie lange ist es her?« fragte sie beharrlich. »Wann ist es zum ersten Mal geschehen?«
    »Kurz, nachdem ich die Burg des Otbert von Lohe verließ.« Nach einem langen Atemzug fügte er hinzu: »Die Burg deines Vaters, Malena.«
    Nimmermehrs Stimme wechselte von seinem linken zum rechten Ohr, ohne daß er eine Bewegung wahrnahm. Kein Luftzug, kein Geräusch. »Malena? Nein, Hagen. Nicht Malena.«
    Er zögerte, versuchte nachzudenken. Dann, auf einen Schlag, verstand er. »Nane«, sagte er leise. »Du bist Nane.«
    »Malenas
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