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Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten
Autoren: Philip Kerr
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Geschichte bis heute niemals erzählt habe. Newton selbst hat mich schwören lassen, über diese dunkle Materie, wie er es nannte, Stillschweigen zu bewahren.
    Doch jetzt, da der große Mann tot ist, sehe ich keinen Grund, nicht davon zu erzählen. Aber wem? Und wo sollte ich anfangen? Ich bin, fürchte ich, zu nüchtern, um jene ungekünstelte Eloquenz und schlichte, aber noble Erzählweise zu meistern, die irgendjemandes Aufmerksamkeit länger fesseln könnte. Das ist die Krankheit der Engländer. Wir sprechen eine zu schmucklose Sprache, um eine Geschichte gut zu erzählen.
    Ich muss gestehen, da ist vieles in meiner eigenen Geschichte, was ich vergessen habe. Es ist schwer, sich an alles zu erinnern.
    Das Ganze ist über dreißig Jahre her und viele Aspekte dieser Geschichte scheinen mein Fassungsvermögen zu übersteigen.
    Aber vielleicht liegt der Mangel ja in meiner Person, denn ich finde mich selbst nicht sonderlich interessant, schon gar nicht im Vergleich zu Newton. Wie hätte ich mir je zutrauen sollen, jemanden wie ihn zu verstehen? Ich war kein gebildeter Mensch. Eine Schlacht könnte ich besser darstellen als diese Geschichte. Blenheim, Oudenarde, Malplaquet. Bei all diesen Schlachten war ich dabei. In meinem Leben gab es wenig Poesie. Keine eleganten Worte. Nur Pistolen und Degen, Kugeln und Zoten.
    Aber vielleicht könnte ich es ja in meinem eigenen Kopf proben.
    Denn ich möchte schon, dass diese Geschichte eines Ta ges bekannt wird. Und falls ich mich langweilen sollte, werde ich mir einfach Einhalt gebieten und nicht weiter gekränkt sein. Ich hätte nie gedacht, dass ich, um mich zu erinnern, diese
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    Geschichte aufschreiben müsste. Aber wie sollte ich dahin kommen, sie besser erzählen zu können, außer durch Aufschreiben?

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    ERSTES KAPITEL

    DIE SONNE SOLL NICHT MEHR DEIN LICHT SEIN AM
    TAGE UND DER GLANZ DES MONDES SOLL DIR NICHT
    MEHR LEUCHTEN, SONDERN DER HERR WIRD DEIN
    EWIGES LICHT UND DEIN GOTT WIRD DEIN GLANZ
    SEIN.
    Jesaja 60, 19

    Am Donnerstag, den fünften November 1696, gingen die meisten Leute in die Kirche. Ich aber ging ein Duell austragen.
    Der Tag der Pulververschwörung war für die Protestanten ein doppelter Anlass zum Feiern: An diesem Tag im Jahr 1605 war König James I. vor einem römischkatholischen Komplott errettet worden, welches das Parlament in die Luft sprengen wollte und am gleichen Tag im Jahr 1688 war der Prinz von Oranien in Torbay gelandet, um die Kirche von England aus der unterdrückerischen Hand eines anderen Stuarts, König James II., zu erretten. Überall in der Stadt wurden an diesem Tag Gedenkpredigten gehalten und ich hätte gut daran getan, mir eine davon anzuhören, denn die Gedanken ein wenig auf die himmlische Errettung zu lenken hätte mir vielleic ht geholfen, meinen Zorn gegen die papistische Tyrannei zu kehren statt gegen den Mann, der mich in meiner Ehre gekränkt hatte. Aber mein Blut war in Wallung und ich hatte nichts anderes im Kopf als den Kampf und so ging ich mit meinem Sekundanten zu Fuß zum World's End in Knightsbridge, wo wir eine Scheibe Rinderbraten und ein Glas Rheinwein als Frühstück zu uns nahmen und dann in den Hyde Park, wo mich mein Gegner, Mister Shayer, bereits mit seinem Sekundanten erwartete.
    Shayer war ein hässlicher Kerl. Seine Zunge war zu groß für
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    seinen Mund, sodass er lispelte wie ein kleines Kind. Ich begegnete ihm etwa so, wie ich einem tollwütigen Hund begegnet wäre. Ich weiß nicht mehr, worum unser Disput ging.
    Ich kann nur sagen, dass ich damals ein streitlustiger junger Mann war und dass die Schuld wahrscheinlich auf beiden Seiten lag.
    Es wurden weder Entschuldigungen verlangt noch welche vorgebracht und wir warfen alle vier rasch die Röcke ab und gingen mit Degen aufeinander los. Ich hatte einiges Geschick mit der Waffe, da ich bei Mister Figg in der Oxford Road fechten gelernt hatte, aber dieser Kampf entbehrte jeder fechterischen Raffinesse und ich machte kurzen Prozess und traf Shayer in die linke Brust, was, da der Stich so dicht beim Herzen lag, dem armen Kerl eine Todesangst einjagte und mir die Angst vor gerichtlicher Verfolgung, da Duelle seit 1666
    gesetzlich verboten waren. Die meisten Duellanten scherten sich wenig um die möglichen juristischen Folgen ihres Tuns, aber Mister Shayer und ich waren beide in der Rechtsschule, dem Gray's Inn, um Erfahrungen mit der englischen Rechtspraxis zu sammeln und unser Kampf verursachte rasch einen Skandal, der mich zwang, von der
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