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Neville, Katherine - Der magische Zirkel

Titel: Neville, Katherine - Der magische Zirkel
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Sein Diener legte ihm den dunkelgrünen Hausmantel um, und dann begab er sich, gefolgt von der Tempelwache, durch die gepflasterten Korridore zu dem Empfangsraum, wo der Fremde wartete. Kajaphas ahnte, daß dies ein schicksalhafter Augenblick, daß seine Stunde gekommen war.
    Als er später von den Römern und vom Hohen Rat über diese Nacht befragt oder vielmehr verhört wurde, konnte er sich seltsamerweise nur daran erinnern, wie er mitten in der Nacht geweckt worden war, durch die langen Korridore ging und das Gefühl hatte, seinem Schicksal entgegenzugehen – letzteres erwähnte er selbstverständlich nicht. Der Fremde und die Begegnung mit ihm blieben verschwommen, als wäre er in jener Nacht betrunken und nicht ganz bei Sinnen gewesen.
    Aber warum sollte er sich auch an ihn erinnern? Er hatte ihn schließlich nur ganz kurz und nur in jener einen Nacht gesehen. Den Rest hatte die Polizei erledigt. Sie zahlten ihm für seinen Dienst dreißig Silberstücke aus. Wie konnte man von Kajaphas erwarten, daß er sich so lange danach an den Namen dieses Mannes erinnerte? Es war ein Bursche aus Kerijot; aber genau wußte er das auch nicht mehr. Aufs Ganze gesehen, dachte Kajaphas, in dem großen Teppich, den die Geschichte wob, kam es darauf doch gar nicht an. Nur der Zeitpunkt war wichtig.
    In zweitausend Jahren würden ihre Namen wie Staub über eine riesige Ebene wehen, und kein Mensch würde sich an all das erinnern.
    Sonntag

    Claudius Nero Tiberius konnte in der Dunkelheit sehen. Als er jetzt in finsterster Nacht, die weder Mond noch Sterne
    erhellten, an der Mauerbrüstung stand, konnte er dennoch die Umrisse und Adern seiner kräftigen Hände erkennen, die auf der Brüstung ruhten. Mit seinen großen dunklen Augen blickte er aufs Meer hinaus und bis hinüber in die Bucht von Neapel. Er sah die weißen Schaumkronen und die Küstenlinie, die in tiefer Dunkelheit lag.
    Diese Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen, besaß er schon im frühesten Kindesalter. Auf diese Weise hatte er seiner Mutter geholfen, über Wiesen und Berge zu fliehen, als sie damals von Soldaten des Gaius Octavian verfolgt wurde, der sie verführen wollte. Dann wurde Octavian Augustus der erste Kaiser von Rom. Tiberius Mutter ließ sich von seinem Vater scheiden, der Kommandant der großartigen alexandrinischen Flotte Julius Caesars gewesen war, und wurde Roms erste Kaiserin.
    Sie hieß Livia und war eine bemerkenswerte Frau. Sie förderte die pax romana, wurde von den Vestalinnen geehrt und von fast allen im Reich geschätzt. Herodes Antipas baute eine Stadt in Judäa, die er Livias nannte, und mehrmals hatte man vorgeschlagen, sie wie Augustus in den Rang der Unsterblichen zu erheben.
    Aber Livia war tot. Dank ihr war jetzt Tiberius Kaiser, denn sie hatte, um die ehrgeizigen Pläne ihres Sohnes zu fördern, jeden legitimen Erben, der zwischen ihm und dem Thron stand, vergiftet – und, wie man in weiten Kreisen glaubte, sogar den göttlichen Augustus. Vielleicht sollte man sagen, daß sie es vor allem in ihrem eigenen Interesse getan hatte. Tiberius fragte sich, ob Livia, wo immer sie jetzt sein mochte, auch im Dunkeln sehen konnte.
    Es schien tausend Jahre zurückzuliegen, seit Tiberius an jener anderen Brüstung in seinem selbstauferlegten Exil auf Rhodos stand, wohin er sich vor seiner liederlichen Ehefrau Julia, der Tochter des Augustus, geflüchtet hatte. Wegen ihr hatte er sich von seiner geliebten Vipsania trennen müssen. In der Woche, in der Augustus Julia verbannte und seinem Schwiegersohn eine Nachricht schickte mit der Bitte, nach Rom zurückzukehren, hatte man ein Omen gesehen: Ein Adler – ein Vogel, der noch nie auf Rhodos gesehen worden war – hatte sich auf dem Dach seines Hauses niedergelassen. Die Auslegung seines Astrologen Thrasyllos, daß Tiberius der Thronfolger sein würde, hatte sich als richtig erwiesen.
    Tiberius glaubte, die Welt würde vom Schicksal regiert und daß man mit Hilfe der Astrologie, der Omen oder der herkömmlichen Weissagungsmethoden wie das Lesen von Knochen und Eingeweiden etwas über das Schicksal erfahren könnte. Deshalb hielt er es für sinnlos, die Götter anzuflehen oder mit Opfergaben und dem Bau kostspieliger Tempel und Monumente besänftigen zu wollen.
    Für ebenso nutzlos hielt er die Ärzte. Seit seinem dreißigsten Lebensjahr hatte er weder eine Behandlung noch eine Arznei gebraucht und war mit seinen vierundsiebzig Jahren noch stark wie ein Stier. Er hatte einen wohlgeformten Körper und die
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