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Neuromancer-Trilogie

Titel: Neuromancer-Trilogie
Autoren: W Gibson
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Richtung Hafen stand ein unscheinbares, zehnstöckiges Bürohaus mit hässlicher gelber Backsteinfassade. Die Fenster waren nun dunkel, aber auf dem Dach war ein schwacher Lichtschein zu sehen; dazu musste man sich allerdings fast den Hals verrenken. Auf einem abgeschalteten Neonschild beim Haupteingang stand CHEAP HOTEL unter einem Schwung weiterer Ideogramme. Falls der Laden einen anderen Namen hatte, kannte Case ihn nicht; es war immer nur von »Cheap Hotel« die Rede. Man erreichte es über eine Seitenstraße der Baiitsu, wo am Fuße eines transparenten Schachts ein Aufzug wartete. Der Aufzug war wie das Cheap Hotel selbst erst nachträglich eingerichtet und mit Bambus und Epoxid am Gebäude befestigt worden. Case trat in die Plastikkabine und benutzte seinen Schlüssel, einen unmarkierten, festen Magnetbandstreifen.
    Er hatte hier bei seiner Ankunft in Chiba einen Sarg auf wöchentlicher Basis gemietet, aber bisher noch nie im Cheap Hotel geschlafen. Er schlief in billigeren Löchern.
    Der Aufzug roch nach Parfüm und Zigarettenrauch; die Kabinenwände waren verkratzt und mit Fingerabdrücken beschmiert. Als die Kabine den fünften Stock passierte, sah Case die Lichter der Ninsei. Er trommelte mit den Fingern auf den Pistolengriff, während die Kabine mit zunehmendem Zischen langsamer wurde. Wie immer kam sie mit einem jähen Ruck vollends zum Stehen, aber darauf war er gefasst. Er trat in den Innenhof hinaus, der als Kombination aus Vorgarten und Foyer diente.
    Mitten auf dem rechteckigen, grünen Plastikrasenteppich saß ein japanischer Teenager hinter einer C-förmigen Konsole und las in einem Lehrbuch. Die weißen Fiberglassärge waren
in einem Baugerüst aufgereiht. Sechs Lagen mit jeweils zehn Särgen pro Seite. Case nickte dem Teenager zu und humpelte über den Plastikrasen zur nächsten Leiter. Der Hof war mit billigen, laminierten Matten überdacht, die bei Sturm klapperten und nicht regendicht waren, aber die Särge ließen sich ohne Schlüssel nur ziemlich schwer öffnen.
    Der Laufrost wackelte unter seinem Gewicht, als er in der dritten Reihe zur Nummer 92 stapfte. Die Särge waren drei Meter lang, der gewölbte Deckel einen Meter breit und knapp anderthalb Meter hoch. Case schob den Schlüssel in den Schlitz und wartete auf die Freigabe durch den Hauscomputer. Magnetbolzen fuhren mit einem beruhigenden, dumpfen Tschok zurück, und der Deckel klappte mit quietschenden Federn auf, bis er senkrecht stand. Leuchtstofflampen flackerten auf, als er hineinkroch, den Deckel hinter sich zuzog und die Taste drückte, die das manuelle Schnappschloss aktivierte.
    In Nummer 92 war weiter nichts als ein normaler Hitachi-Taschencomputer und eine kleine, weiße Styroporkühlbox. Die Box enthielt die Reste von drei Zehnkilostangen Trockeneis, sorgsam in Papier gewickelt, um das Verdampfen zu verzögern, und eine Laborflasche aus gedrehtem Aluminium. Auf dem braunen Temperschaum kauernd, der zugleich Boden und Bett war, zog Case Shins.22er aus der Tasche und legte sie auf die Kühlbox. Dann schlüpfte er aus seiner Windjacke. Das Terminal des Sargs war in eine der konkaven Wände gegenüber einer Tafel eingelassen, die in sieben Sprachen die Hausordnung verkündete. Case nahm den pinkfarbenen Hörer von der Gabel und tippte eine Nummer in Hongkong ein, die er auswendig wusste. Er ließ es fünfmal läuten und hängte wieder ein. Sein Käufer für die drei Megabyte heißes RAM im Hitachi nahm keine Anrufe entgegen.
    Er wählte eine Tokioter Nummer in Shinjuku.
    Eine Frau meldete sich auf Japanisch.

    »Snake Man da?«
    »Freut mich sehr, von dir zu hören«, sagte Snake Man über eine Nebenstelle. »Hab deinen Anruf erwartet.«
    »Ich hab den gewünschten Schlager.« Er warf einen Blick auf die Kühlbox.
    »Das hört man gern. Wir haben momentan Liquiditätsprobleme. Kannst du’n bisschen warten?«
    »O Mann, ich brauch die Kohle dringend …«
    Snake Man hängte ein.
    »Arschloch«, sagte Case zum summenden Hörer. Er starrte auf die billige, kleine Pistole. »Gar nicht gut. Sieht alles gar nicht gut aus heut Nacht.«
     
    Eine Stunde vor Sonnenaufgang marschierte Case ins Chat, beide Hände in den Jackentaschen vergraben; in der einen hielt er die geliehene Pistole, in der anderen die Aluflasche.
    Ratz saß an einem der hinteren Tische und trank Apollinaris aus einem Bierkrug, seine hundertzwanzig Kilo teigiges Fleisch auf dem knarrenden Stuhl gegen die Wand gelehnt. Ein junger Brasilianer namens Kurt stand hinter
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