Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Titel: Neunerlei - eine Weihnachtserzählung
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
dass die überwiegende Mehrheit der Friedhofsbewohner seinerzeit deprimierend lange im irdischen Jammertal herumgeirrt war. Vor den wenigen Gräbern derer, deren Wanderung |9| zwischen dem dreißigsten und vierzigsten Geburtstag zu Ende gegangen war, blieb ich stehen und versuchte anhand der Inschriften zu erkennen, ob sie selbst bei ihrem Ableben ein wenig nachgeholfen hatten. Als ich nach einer Weile noch immer keine Antwort gefunden hatte, schob ich meine Gedanken beiseite, wie man einen lästigen und sperrigen Gegenstand in den Keller oder auf den Dachboden räumt, und streifte weiter die Grabreihen entlang, atmete den Duft von nasser Erde und Buchsbaum.
    Der Regen war inzwischen durch meine Hosenbeine gedrungen, meine Schuhe quatschten bei jedem Schritt, und ich fror. Doch nach Hause wollte ich auf keinen Fall: Dort wartete nur der leere Computerbildschirm auf mich.
    Erst als ich direkt vor dem Grab des Namenlosen stand, bemerkte ich das Glas auf der Platte. Ich kniete nieder, die Stirn in Falten. Es war ein zierliches, geschwungenes Gefäß mit Deckel, und darin lagen ein paar Körner. Mein Blick huschte nach rechts und links, und als ich niemanden entdeckte, griff ich nach dem Gläschen. Ich hob den Deckel, langsam und vorsichtig, ja beinahe ängstlich, als könnte der aus dem Behältnis kriechende Duft mich vergiften. Irritiert über meinen Mangel an Beherztheit und mir plötzlich bewusst, wie sehr ich doch am Leben |10| hing, roch ich daran, erst zögerlich, dann forscher. Vage glaubte ich, mich an etwas zu erinnern, kam aber nicht darauf, was es war. Ich stellte das Gläschen zurück, und da erst fiel mir ein, dass ich doch vor Tagen einen Stein auf der Platte platziert hatte. Ich richtete mich auf, von der Erkenntnis erfüllt, einer Art Irrtum erlegen zu sein. Wenn es einen Menschen gab, der dieses Grab besuchte, warum sorgte er dann nicht dafür, dass die Platte sauber blieb? Auch fühlte ich einen lächerlichen Anflug von Ärger: In den vergangenen Tagen hatte ich dem Ort gegenüber einen irrationalen Besitzanspruch entwickelt. Ich ließ meinen Blick schweifen in der trotzigen Hoffnung, irgendwo den Menschen zu erblicken, der das seltsame Objekt auf das Grab gestellt und meinen Stein fortgenommen hatte. Als sich ringsum niemand ausmachen ließ, suchte ich einen weißen Kieselstein und legte ihn neben das Glas.

Es war nicht gerade so, dass ich mit der Adventszeit besonders selige Kindheitserinnerungen verband. Auch war ich der festen Überzeugung, so etwas wie Weihnachtszauber gebe es nicht mehr.
    Bei uns zu Hause waren die Heiligen Abende immer gleich abgelaufen, und stets hatte es Vater so eingerichtet, dass wir spätestens um acht Uhr vor dem Fernseher landeten, ›Tagesschau‹, und darauf sahen wir zu, wie andere Leute Weihnachten feierten. Während Vater seine Bierchen zischte und Mutter eine Orange nach der anderen schälte (hin und wieder knackte sie auch eine Nuss), stopfte ich mich mit Aachener Printen und Nürnberger Lebkuchen voll und sehnte mich nach Weihnachten in Bullerbü. Meist machte ich den Abgang, bevor Vater vor dem Fernseher einschlief und Mutter sich, mit einem Seufzer, erhob, den Fernseher ausstellte und allein ins Bett ging.
    Im Grunde genommen war ich der festen Überzeugung, dass es diese Heiligen Abende |12| gewesen waren, die Mutter letztendlich dazu bewogen hatten, sich noch einmal aufzumachen, weil doch gewissermaßen alle damals unterwegs waren: Josef und Maria, die Hirten und die Heiligen Drei Könige. Vielleicht dachte sie, es könnte sich lohnen, noch ein wenig mehr zu sehen in diesem Leben.
    Als sich abzeichnete, dass ich mein Abitur bestehen würde, verkündete sie, dass sie den LK W-Führerschein gemacht habe. Am Tag, als ich mein Studium in Berlin antrat, fuhr sie davon. Seither konnte es gut sein, dass Mutter an Heiligabend über die Autobahn brauste, spanische Orangen im Schlepptau, und vielleicht dachte sie daran, wie es gewesen war, neben meinem Vater vor dem Fernseher zu sitzen.
    Natürlich war mir damals schon klar gewesen, dass es die Umstände waren, die meine Mutter aus dem Haus getrieben hatten. Aber ich konnte nicht von dem Glauben lassen, dass an allem nur die Heiligen Abende vor dem Fernseher schuld gewesen waren. Ich hatte aufgehört, an Weihnachten zu denken, als meine Mutter das Haus verließ. In all den Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte sich diese Aversion noch verschärft und auf die ganze Adventszeit ausgedehnt.
     
    |13| Apothekerin
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher