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Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Titel: Neunerlei - eine Weihnachtserzählung
Autoren: dtv
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großem Garten zu beziehen, zusammen mit der alleinerziehenden Mutter. Und dem Kind, versteht sich.
     
    Genau darüber grübelte ich nach, als ich am dritten Dezember meine Schritte wieder zum Grab des Namenlosen lenkte. Zu meiner Überraschung stand nun ein zweites Glas genau derselben Machart neben dem ersten. Ich machte Halt, mein Blick klebte an dem Gefäß, in dem ein Pulver von rötlichem Braun zu sehen war. Diesmal zögerte ich nur kurz, öffnete es und roch: Zimt. Ich erkannte den Duft sofort, stieg doch eine Weihnachtserinnerung an Kindertage in mir auf, wie ich sie längst verloren geglaubt hatte. Wieder suchte ich einen besonders reinen, besonders schönen Kiesel und legte ihn zu dem anderen.

Nach einem ausgedehnten Spaziergang in der früh hereinbrechenden Dämmerung, vorbei an Schaufenstern mit Sternen und Kugeln, Schneekristallen aus Glas und künstlichem Tannengrün fühlte ich mich mit einem Male beschwingt, ja beinahe übermütig, und als ich im Schaufenster eines Antiquariats ein Buch mit dem Titel ›Bunte Gewürzkunde von Anis bis Zimt‹ liegen sah, beschloss ich kurzerhand, hineinzugehen. Der Antiquar – der mich mit einem knappen Nicken begrüßte und, wie ich mutmaßte, zu den stillen Lächlern gehörte – holte das Buch aus dem Schaufenster, und während ich es vorsichtig durchblätterte, wirbelte der Staub von Jahren auf. Das Buch war ein Kleinod, das erkannte ich wohl, aber bei Büchern wie auch bei Kleidern bevorzugte ich neue Ware – vielleicht eine berufsbedingte Einschränkung des Apothekers. Nach einigem Blättern und Zögern entschloss ich mich dennoch, es zu kaufen.
    Auf dem Rückweg nach Hause kitzelten winzige |27| Flocken meine Nase und Wangen. Ich ging an einem Schaufenster vorüber, in dem Menschen in Sesseln saßen und Kaffee tranken, trat ein, holte mir den größten Kaffee, den »Starbucks« zu bieten hatte, und versank im letzten noch freien Ohrensessel. Ich nippte am heißen Kaffee, das Buch lag auf meinem Schoß. Nur das Schaufenster trennte mich von den Vorübereilenden, die mit Tüten und Paketen im Arm auftauchten und wieder verschwanden, wie auf einer Bühne, vor der ich mich für die Dauer eines Kaffees niedergelassen hatte. Ein Stück mit wechselnden Darstellern, dachte ich und fragte mich, wie es kam, dass all diese Menschen andere Menschen hatten, die sie beschenken konnten und für die sie nun Tüten und anderes durch die Gegend schleppten, dem einen Abend entgegensteuernd. Ich selbst hatte nur Ruth, meine Apothekenhelferin, die bei mir seit dem ersten Tag arbeitete und der ich jedes Jahr an Heiligabend ein Paket in die Hand drückte, woraufhin sie ebenfalls jedes Jahr »echt cool, danke« sagte.
    Ich warf einen letzten Blick auf eine junge Frau mit gelbem Anorak und lila Wollschal und tauchte ein in eine Welt, in der es nach Zimt und Nelken duftete. Ich las und las, und als ich nach zwei Stunden wieder aufmerkte, waren der Bürgersteig und die parkenden Autos unter einer |28| Schneeschicht verborgen. Ich steckte mein Buch in die Tasche, schlüpfte in meinen Mantel und schlang den Schal doppelt um den Hals. Und ging nach Hause, durch eine Welt, die leiser und sanfter geworden war, wenn vielleicht auch nur für eine Nacht.

Als sie mich in der Babyklappe fanden, steckte ein Zettel in meiner Kapuze, und darauf stand ein Name. Also nannten sie mich »Sami«. Das bot mir zumindest eine ganze Palette an Möglichkeiten: Vielleicht waren meine Eltern aus Afghanistan, vielleicht aus der Türkei oder ganz generell aus dem arabischen Raum. Sie hätten aber auch Finnen sein können. Vielleicht gab es Finnen mit schwarzen Haaren und schwarzen Augen? Im Arabischen bedeutete Sami »der Helle« oder auch »der Erleuchtete«, was mir immer gut gefiel. Geprägt hatte mich allerdings weder der arabische noch der skandinavische Kulturraum, sondern eine Kindheit, die ich überwiegend in einem protestantischen Kinderheim verbrachte.
    Wir waren damals zu viert in einem Zimmer, und von meinem Bett aus konnte ich ein Stück vom Himmel sehen, der meist grau, manchmal aber auch porzellanblau war, als habe ihn jemand mit einem weichen Tuch blank poliert. Im Advent beklebten wir die Scheiben mit bunten |30| Sternen, die wir selbst gebastelt hatten. Und Willy beklebte sie mit Popeln, zumindest eine Zeit lang, bis die Schweinerei entdeckt wurde und er die Fenster putzen musste. Danach klebte er seine Popel nur noch an den Himmel seines Stockbetts. Jedenfalls behauptete er das. Ich hatte
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