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Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Titel: Neunerlei - eine Weihnachtserzählung
Autoren: dtv
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begleiten?«
    Überwältigt und sprachlos ging ich hinter ihr her, und als wir vor dem Grab angelangt waren, sagte sie:
    »Ich habe mich über Ihre Steine gefreut. Das |90| ist ein Brauch, der mir schon immer gut gefallen hat.«
    Und wie das letzte Mal schon, kramte sie in ihrer Tasche, zog ein weiteres Gläschen heraus und ließ mich, bevor sie es an seinen Platz stellte, an den Nelken riechen.
    »Weihnachten«, sagte ich.
    »Ja, Weihnachten«, antwortete sie.
    Eine Weile lang stand sie einfach so da. Dann lächelte sie. »Sie wollen wissen, was ich hier tue? Dann kommen Sie am 24. wieder, um halb sechs. Und bringen Sie Ihre junge Freundin mit.«
     
    Die nächsten drei Tage vergingen in quälender Langsamkeit, und Katharina und ich konnten unsere Gedanken kaum auf etwas anderes richten als auf den bevorstehenden Heiligabend. Dreimal am Tag konsultierte ich den Wetterbericht im Internet, und ein paarmal sprachen Katharina und ich darüber, wie schön es doch wäre, wenn es schneien würde. Am 24. war jedoch von Schnee keine Spur, und so standen wir um Viertel nach fünf an dem Grab und sahen in den Nebel ringsumher. Wie zwei Kinder hielten wir uns an den Händen, warfen uns immer wieder Blicke zu, in denen gespannte Erwartung gepaart mit Glückseligkeit lag, und lauschten in |91| die wattige Dunkelheit. Die Friedhofslaternen warfen einen orangeroten milchigen Schimmer auf unsere Gesichter, und Katharina flüsterte mir zu, dass sie hier um nichts in der Welt allein herumstehen würde. Und da kam die alte Dame.
    Diesmal schienen ihre Schritte weniger schleppend. Als sie uns erreicht hatte, nickte sie uns zu, griff in ihre Tasche und zog ein Gläschen heraus. »Fenchel«, sagte sie nur. Etwas mühsam beugte sie sich herunter, stellte das Glas zu den anderen, holte Streichhölzer und ein Grablicht hervor und zündete es an. So standen wir drei eine Weile lang vor dem Grab, betrachteten schweigend das rote Licht und die Glasgefäße, die darin schimmerten und glänzten.
    Ich glaubte schon, dass nichts anderes mehr käme und wir alle wieder nach Hause gehen würden, einfach so, da sagte die alte Dame: »Und nun kommen Sie mit!«
    Sie setzte sich in Bewegung, ging zwischen den Grabreihen entlang, dorthin, von wo sie gekommen war, hinaus durch das Friedhofstor. Wir folgten ihr durch neblige Straßen, gingen vorüber an hohen Häusern, hinter deren Fenstern bereits die Weihnachtsbäume leuchteten. Vor einem dunklen Hauseingang blieb die alte Dame stehen, die Kirchenglocken begannen zu läuten. |92| Katharina und ich wechselten einen Blick. Die alte Dame schloss die Haustür auf. Im ersten Stock öffnete sie eine andere Tür, und mit einem Mal standen wir in einem Raum, in dessen Mitte eine festliche Tafel gedeckt war. Sie nahm uns die Mäntel ab (»Nun kommen Sie schon!«), hieß uns an der Tafel Platz nehmen, auf der verschiedene Terrinen und Schüsseln auf kleinen Stövchen standen. Geschichten von Hexen und Zwergen mit langen Nasen wehten durch mein Gedächtnis, Fluchtgedanken blitzten auf, doch ich blieb sitzen. Ich wollte und musste das Geheimnis lüften.
    Sie zündete die Kerzen an, raunte uns zu, ab jetzt dürfe niemand mehr den Tisch verlassen, und wünschte uns einen guten Appetit. Wir mussten von allem kosten und tafelten einige Stunden lang, aßen uns durch Hirsesuppe und Bratwürste mit Sauerkraut, Braten und Klöße, Rotkohl und Grünkohl, Rouladen und rote Grütze.
    »Neunerlei«, sagte sie nur und nahm einen Schluck Rotwein. »Bei uns zu Hause gab es an Heiligabend niemals etwas anderes.«
    Katharina und ich tauschten einen Blick.
    »Es ist das Grab meiner Mutter. Und ab dem 1.   Dezember stelle ich zum Gedenken an sie die Gewürzgläschen auf. Ein Weihnachten ohne |93| selbstgemachten Lebkuchen war für sie kein Weihnachten.«
    »Was ist mit ihrem Namen?«, fragte Katharina nach einer Weile und schluckte.
    »Ihrem Namen?«
    »Auf dem Grab ist kein Name.«
    Die Augen der alten Dame wurden wieder ganz klein zwischen unzähligen Fältchen. »Den   …«, sagte sie, »kann ich Ihnen nicht verraten.«
     
    Das war das erste und einzige Mal, dass wir das Haus der alten Dame betraten. Auch sahen wir sie nie mehr wieder. Als wir Wochen später das Haus suchten, um ihr zu danken und sie zu einem Besuch bei uns einzuladen, konnten wir uns nicht recht daran erinnern, welche der Türen nun ihre gewesen war. Ein paarmal gingen wir die Straße auf und ab und einigten uns schließlich auf eine der Türen und klingelten.
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