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Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Titel: Neunerlei - eine Weihnachtserzählung
Autoren: dtv
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herrschte vollkommene Dunkelheit. Während ich weiter in die Richtung starrte, aus der die Schritte kamen, zog ich mich tiefer hinter die Eibe zurück, geräusch- und atemlos. Das darf doch nicht wahr sein. Was tue ich hier? Worauf habe ich mich da eingelassen? Der Leichtsinn, der dieses Unterfangen auszeichnete, kam mir siedend heiß zu Bewusstsein. Und da sah ich sie: eine riesenhafte, schwarze Gestalt, die in den Lichtkegel der Laterne trat. Das war kein Mensch, das war   … Ich wusste es nicht. Ein Monster? Wie das Kaninchen die Schlange, starrte ich die dunkle Gestalt durch das Gezweig an, aber meine Brille war inzwischen beschlagen, sodass ich nichts mehr erkennen konnte. Ich schwankte zwischen dem Bedürfnis zu schreien, so laut ich konnte, und dem, mich hinzukauern, mich so klein wie möglich, am besten unsichtbar zu machen. Die Gestalt kam näher und näher, das konnte ich hören, sie hielt direkt auf mich |77| zu. Ein letzter wilder Fluchtgedanke durchzuckte mich, ich wollte fortrennen, aber meine Füße waren wie taub. So stand ich da, in einem Alptraum gefangen, und konnte mich nicht rühren. Und gerade als ich glaubte, ohnmächtig zu werden, hörte ich eine vertraute Stimme sagen:
    »Katharina? Bist du da?«
    Sami.

Katharina hatte sich hinter der Eibe versteckt und ich erschrak, als ich ihre Stimme hörte, die dünn und völlig verängstigt klang: die Stimme eines Kindes. Als sie auftauchte und das Licht der Friedhofslaterne auf ihr Gesicht fiel, sah es so bleich aus und ihre Augen waren so groß, dass ich mich im ersten Moment fragte, ob es wirklich sie war – oder ihr Geist. Sie schwankte ein wenig, und ich trat auf sie zu und hielt sie fest.
    »Ist dir nicht gut?«, fragte ich.
    »Oh, doch, doch   …« Ein Flüstern.
    »Ich wollte dir Gesellschaft leisten.«
    »Das ist nett.« Ein Krächzen.
    »Ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt.«
    »Oh, nein, nein. Ich hatte mich nur etwas zurückgezogen, weil ich glaubte   …«
     
    So verbrachten wir die frühen Morgenstunden gemeinsam und beobachteten den Tag, der die Nacht beiseiteschob. Gegen Mittag ging Katharina |79| los und holte bei einem Schnellimbiss eine Kungfu-Suppe und gebratenen Reis, wir setzten uns auf das Grab und aßen schweigend. Auch den Rest des Tages verbrachten wir zusammen, hielten bei jedem Besucher, der die Grabreihen entlangging, den Atem an und unterhielten uns bis zum Abend mit Anekdoten aus unserem Leben. Die Gelegenheit, Katharina darüber aufzuklären, dass ich Tamara Sommerblum war, kam und verstrich ungenutzt wieder. Gegen Abend fror ich so erbärmlich, dass ich es kaum noch aushielt, hatte ich doch am Morgen nur rasch nach Katharina sehen wollen und mich mit meiner Kleiderwahl nicht auf einen längeren Aufenthalt im Freien eingerichtet.
     
    Die Montagsschicht übernahm fast komplett ich, diesmal jedoch in Fellstiefeln, dreifacher Montur und mit zwei Thermoskannen ausgerüstet. Stunde um Stunde ging ich die Grabreihen auf und ab. In Katharinas Mittagspause saß ich zwei Stunden lang in einem Café herum, die Finger um eine Tasse Kakao geschlungen. Als der Tag den Abend berührte und die Dämmerung die Farben müde machte, goss ich mir den letzten lauwarmen Schluck Tee ein. Enttäuscht sah ich die Nebelschleier in den Zweigen hängen, regungslos in der Stille der Blauen Stunde. |80| Ich war gerade dabei, Kanne und Becher in meinem Rucksack zu verstauen, als ich langsame, ja schlurfende Schritte im Kies vernahm. Ich trat ein Stück zurück, kniff die Augen zusammen, reckte den Kopf ein wenig vor und starrte in die Richtung, aus der das Knirschen kam. Aus dem Nebel tauchte eine Gestalt auf, schwarz gekleidet, die sich mühsam zwischen den Grabreihen entlangbewegte. Im Näherkommen erkannte ich, dass es eine alte Frau war, die sich bei jedem Schritt auf einen Stock stützte. Wie gebannt sah ich, wie sie in einem Beutel nestelte, etwas herauszog und es umständlich vor sich auf der Grabplatte abstellte. Jetzt, da sie mit dem Rücken zu mir stand, huschte ich ein paar Bäume weiter in ihre Richtung und linste hinter einer Eibe zu ihr hinüber. Ich meinte ein Murmeln zu hören, das deutlicher wurde und mir zeigte, dass ich recht gehabt hatte: Sie sprach mit dem Grab, nein, mit dem Menschen, der dort den ewigen Traum träumte. Sie blieb in etwa eine Viertelstunde, und als ihre Gestalt eins wurde mit der Dunkelheit, hörte ich die Schritte sich langsam entfernen.
    Jetzt war ich wie gebannt: Ich musste wissen, wer die Frau
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