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Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Titel: Neunerlei - eine Weihnachtserzählung
Autoren: dtv
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war, ich musste wissen, wo sie hinging, und letztlich musste ich wissen, was es mit den vielen Gläsern auf sich hatte. Also folgte ich ihr in einigem Abstand und sah sie zwei Straßen |81| weiter in einem hohen und schmalen Stadthaus verschwinden. Im Vorübergehen sah ich das Licht angehen. An der Tür war kein Schild.
    Ich rannte den ganzen Weg zurück, und als ich Katharina von meiner Entdeckung berichtete, konnte ich kaum sprechen, so außer Atem war ich. Gemeinsam gingen wir noch einmal zum Friedhof. Dieses Mal war es ein Glas mit zerstoßenem Muskat.
    »Was tut sie da?«, fragte ich. »Ob sie nicht mehr bei Sinnen ist?«
    Katharina lachte: »Und wir zwei?«
    Wir überlegten, ob und wie wir weiter vorgehen sollten. Wir berieten, liebäugelten mit einem Gedanken, verwarfen ihn, nahmen den nächsten auf und schoben auch diesen wieder beiseite.
    Schließlich sagte ich: »Sie kommt und stellt Gläser aufs Grab. Aber sie kommt nicht jeden Tag, nur hin und wieder.« Ich kramte meinen Kalender aus der Tasche, blätterte bis zum Dezember und erkannte ein Muster. »Sie kommt alle drei Tage. Sieben Gläser stehen auf dem Grab. Wenn es mit Weihnachten zu tun hat und sie den Rhythmus weiterverfolgt, dann wiederholt sie ihr Ritual noch zweimal   …«, ich zeigte auf den 18., das heutige Datum, »…   und zwar am 21. und 24.«

»Ich hole dich ab, am 23., wie wär’s?«, war Mutters erste Frage.
    Ich zögerte. Ich konnte sie doch an Heiligabend nicht allein lassen.
    »Hast du jemanden kennengelernt?« Das war die zweite.
    »Na ja   …« Das konnte man so oder so sehen. Aber hätte sie Verständnis dafür gehabt, dass ich die Ereignisse auf einem Friedhof im Auge behalten musste? Sie hätte sich vielleicht Sorgen gemacht und mich als kauzig hingestellt. Und Sami als gefährlichen Irren. Ich erzählte es ihr trotzdem.
    »Das ist doch wunderbar«, rief sie hocherfreut. Ich war verwundert. Und irritiert. Hatte am Ende immer sie mir einen Gefallen getan, wenn ich sie auf ihren Heiligabendtrips begleitet hatte? Wahrscheinlich hatte ich mir etwas vorgemacht, als ich geglaubt hatte, sie vor der Einsamkeit bewahren zu müssen. Das war ihre Welt, so wollte sie es und nicht anders. Sie war |83| zwar allein, aber nicht einsam, es war ihr Weg und sie hatte ihn bewusst gewählt.
    »Einsam war ich auf dem Sofa neben deinem Vater, wenn wir jeden Abend irgendeine dämliche Sendung geglotzt haben.« Das hatte sie mir einmal gesagt, und seitdem hatten wir das Thema nicht mehr berührt.
    »Wann bist du zurück?«
    »Am 28.«
    »Hast du inzwischen ein   …«
    »Nee, kein Handy. Brauch ich nicht.«
    »Na, dann. Schick mir ’ne Karte von der Hagia Sophia.«
    »Mach ich.«
    »Und   … Frohe Weihnachten!«
     
    In wenigen Tagen war Weihnachten, und ich hatte noch kein Geschenk für Ruth. Das Päckchen mit den Topflappen für Hannelore hatte ich bereits vor zwei Tagen auf die Post gebracht. Ich hatte ganz besonders scheußliche gleich auf dem Weihnachtsmarkt vor der Apotheke ergattert: in Gelb und Lila. In der Mittagspause fuhr ich in die Innenstadt und suchte ein Geschenk für Ruth. Ich wurde bald fündig und erstand einen sündhaft teuren, aber wunderschönen Schal und bummelte noch ein wenig über den Weihnachtsmarkt im Zentrum. Es duftete nach |84| Nelken und Zimt und ich ging immer der Nase nach, bis ich mich vor einem Stand mit Tee und Gewürzen wiederfand. Während ich den Blick über die hübschen kleinen Päckchen und Döschen gleiten ließ, wusste ich mit einem Mal, was ich tun würde.
    Jetzt hatte ich es furchtbar eilig. Als ich in unsere Straße einbog, hielt ich direkt auf das Nebenhaus zu, und ohne groß zu überlegen, klingelte ich.
    »Ja?« Klang Sami nicht ein wenig unwirsch? Vielleicht hätte ich ihn besser nicht stören sollen. Noch war es nicht zu spät, ich konnte einfach wieder weggehen. Einen Augenblick stand ich ratlos da, trat von einem Fuß auf den anderen.
    »Ich bin’s, Katharina Lichtblau.«
    »Oh.«
    Klang er nicht seltsam berührt, fühlte er sich belästigt? Inzwischen bereute ich es, ihn gestört zu haben. Immerhin war er Schriftsteller, und Schriftsteller mussten Ruhe haben, war es nicht so? Wahrscheinlich war er gerade dabei gewesen, einem besonders diffizilen Gedanken hinterherzujagen und ihn auszuformulieren, und nun kam ich. Doch da knisterte es bereits wieder in der Gegensprechanlage, Sami krächzte »vierter Stock« und der Türöffner summte.
    |85| Als ich die Treppe hochgeächzt kam, stand Sami
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