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Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Titel: Neunerlei - eine Weihnachtserzählung
Autoren: dtv
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Danke, dass Sie mich erinnern!«, rief ich zurück. Und als ich mich immer noch zu dumm anstellte, holte die Mohnblüte die Packung selbst aus dem Ständer und scannte sie |34| konzentriert ein. Ich zahlte, wollte noch etwas sagen, aber sie sah plötzlich sehr beschäftigt aus.
    »Auf Wiedersehen«, grüßte ich, und im Hinausgehen dachte ich, was für einen hübschen, ja zauberhaften Kirschmund sie hatte und dass ich ihre Augen gerne mal ohne die Scheiben davor gesehen hätte.

Ich beteiligte mich grundsätzlich nicht an der vorweihnachtlichen Aufregung und geriet darüber zu Beginn jeder Adventszeit mit Ruth aneinander. Jedes Jahr wieder sagte sie: »Ein paar Sterne könnten wir ja nun wirklich aufhängen. Wenigstens für die Kunden!« Und jedes Jahr wieder entgegnete ich: »Nicht in meiner Apotheke.«
    In den Anfangsjahren unserer Zusammenarbeit hatte sie heimlich Sterne an die Fenster geklebt, die ich wieder abnahm, einen Adventskalender im Laden aufgehängt, den ich wieder abhängte. Und einmal hatte sie tatsächlich versucht, einen von diesen Leuchtsternen ins Schaufenster zu hängen, die abwechselnd in verschiedenen Farben blinkten. Auch futterte sie dauernd irgendwelches Adventsgebäck, am liebsten Nürnberger Lebkuchen mit Oblaten, und trällerte, wenn keine Kunden im Laden waren, fast unablässig ›Last Christmas‹ vor sich hin. Überhaupt verbreitete sie in der Adventszeit |36| noch viel mehr hartnäckigen Optimismus als sonst, was mir noch viel mehr auf die Nerven ging als sonst. Besonders in den Wochen vor Weihnachten konnte Ruth sich vor lauter Party- und Festangeboten kaum retten, hier eine schunkelige Runde vom Kegelclub, dort ein Weihnachtsbasar vom Turnverein ihres Patenkindes. Dann die Adventsfeier des Skiclubs (allein die Bezeichnung »Club« erzeugte bei mir einen nicht zu unterdrückenden Widerwillen), ein Vorweihnachtswochenende auf einer Hütte, zusammen mit mindestens zwanzig anderen, die mindestens ebenso unerschütterlich waren wie Ruth und die auch vor Matratzenlagern nicht zurückschreckten. Am liebsten hätte ich sie in diesen Wochen gezwungen, unbezahlten Urlaub zu nehmen, nur um nicht täglich Geschichten darüber zu hören, wie »wirklich lustig« es am Vorabend wieder mit den Keglern gewesen war. Ich hatte sogar schon darüber nachgedacht, den Laden im Advent dichtzumachen, aber was hätte ich dann getan!
    Einmal las ich in der ›Apotheken-Rundschau‹, dass Leute mit einer Neigung zu Depressionen schlechtes Wetter liebten und nichts so sehr verabscheuten wie hartnäckige Optimisten und Sonnenschein.

Im Kinderheim erfuhren wir, dass der erste Adventskranz aus einem Heim stammte, erdacht von einem evangelischen Pastor, der den Kindern das Warten auf Weihnachten verkürzen wollte. Warum ich nun gerade daran dachte, wusste ich erst am nächsten Tag.
    Ich erwachte schon früh, noch bevor der Morgen graute, vom steten Ticken des Regens, der auf den blechernen Fenstersims vor meinem Schlafzimmer trommelte, das gleichzeitig mein Wohn- und Arbeitszimmer und auch die Küche war. Eine Weile lang lag ich so da und dachte an die nächste Folge der Serie ›Irrwege der Liebe‹. Der junge Graf von Schenk sollte heute entdecken, dass er von seiner Verlobten, Sonja von Hardenberg, Jetset-Blondine und Teilzeitmodel, schändlich hintergangen worden war. Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, dass er – vor Trauer und Verzweiflung über den Verrat – seinen Tod auf einer Grabplatte auf dem Friedhof inszenieren könnte und dass ihn die blutjunge |38| und bildhübsche Alleinerziehende Isabelle finden und retten würde, verwarf diesen Plan aber wieder, weil er mir vermutlich Ärger mit der Redaktion eingebracht hätte, da ›Irrwege der Liebe‹ nicht zum Genre der Romantic Thriller gehörte. Ich notierte mir die Szene jedoch noch im Bett sitzend auf einem Block, von denen ich in jeder Ecke der Wohnung (auch wenn sie klein war) einen liegen hatte, und beschloss, dass diese Szene für eine andere Serie viel hergeben würde. Angespornt von diesem Gedanken setzte ich mich, eine große Tasse Kaffee und eine Zigarette in der Hand, noch vor dem Frühstück an den PC und schrieb bis zum frühen Nachmittag, duschte und ging in »Peters Schnellimbiss« an der Ecke, schlug mir den Bauch mit Pommes und Currywurst voll und sah durch das Schaufenster ein paar Männern zu, die dabei waren, Bretter von einem Anhänger zu heben. Peter, der eigentlich Baha hieß und aus Iran stammte, folgte meinem Blick
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