Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Titel: Neunerlei - eine Weihnachtserzählung
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
und sagte: »Weihnachtsmarkt.« Ich sah ihn fragend an und er erklärte: »Hier jedes Jahr Weihnachtsmarkt in Straße.« Dabei betonte er jedes »R« ganz besonders und lächelte auf eine Art und Weise, als sei der Weihnachtsmarkt sein persönliches Verdienst. Da erst merkte ich, während ich den Blick über die Plastikhocker und Resopalflächen wandern ließ, dass Baha selbst |39| auch dafür gesorgt hatte, dass die Stimmung in seinem Imbiss weihnachtlich war: Ringsum verliefen unechte Tannengirlanden, von denen leuchtende Plastikweihnachtsmänner baumelten. In der Ecke neben der Klotür stand ein orangeroter Tannenbaum, der verrostet aussah.
    Baha folgte meinem Blick und sagte: »Schön, nicht?«
    »Ich dachte, du seist Moslem?«
    Baha lächelte breit: »Ja, ich Moslem, aber du nicht, oder? Also ich mache schön für Gäste hier.«
    Er schien auf eine Antwort zu warten, vielleicht sogar auf Lob? Also sagte ich: »Schön, ja, sehr schön!«
    Ich bestellte noch einen Tee zum Abschluss und ging in den Regen hinaus, vorüber an den Männern, die die Buden aufbauten, und schlug den Weg in Richtung Friedhof ein. In den vergangenen zwei Tagen war ich ebenfalls zu
meinem
Grab gegangen und hatte keine Veränderung festgestellt. Ich war gespannt, ob heute wieder ein Glas dastehen würde.
    Von Ungeduld und Erwartung getrieben, öffnete ich die Pforte. Die Wege waren aufgeweicht, an den Rändern lagen schmutzige Schneereste, das Wasser quatschte unter meinen Schritten. Auf einmal konnte ich meine Neugierde kaum |40| noch zügeln, und so rannte ich die letzten Meter fast. Und richtig: Neben den drei bereits bekannten Gläschen stand ein viertes. Provozierend behauptete es seinen Platz in Grabesmitte, ein wenig abseits von den anderen, gerade so, als wollte es sich dort in aller Deutlichkeit präsentieren. Diesmal zögerte ich nicht, schraubte es auf und tat etwas von seinem Inhalt in ein Tütchen, das ich nun ständig bei mir trug. Auf dem Rückweg hoffte ich, die Beute in meiner Tasche mit den Fingern umklammernd, die Mohnblüte möge da sein. Das letzte Mal nämlich, als ich unter dem Vorwand, Hustenpastillen zu brauchen, die Apotheke betreten hatte, hatte eine andere Frau, eine jüngere Blonde, hinter der Theke gestanden und auf einen alten Mann eingeredet, als könnte sie dafür einen Preis gewinnen, was sie aber nicht davon abgehalten hatte, mir zwischendurch ein paar kokette Blicke zuzuwerfen.
     
    Je näher ich der Apotheke kam, desto zögerlicher wurde mein Schritt: Was, wenn sie mich für einen Spinner hielt? Ich dachte eine Weile darüber nach, wie sie mir bisher begegnet war, doch konnte ich mich an nichts erinnern, was diese Sorge begründet hätte.
    Da es jedes Mal ich war, der etwas von ihr erbat, beschloss ich, ihr eine kleine Aufmerksamkeit, |41| ein Zeichen meiner Dankbarkeit zu überreichen. Sie musste wissen, dass ich ihre Freundlichkeit als solche erkannte und zu schätzen wusste.
    Nach zwei Stunden ermüdender Suche in Geschäften aller möglichen Art ließ ich mich noch immer durch die Straßen treiben, noch immer mit leeren Händen. In einer Seitenstraße ein paar Blocks entfernt war ein Weihnachtsmarkt in vollem Gange, ›Driving home for Christmas‹ tönte aus den Lautsprechern hinter dem Glühweinstand. Da ich durchgefroren und auch schon wieder hungrig war, kaufte ich mir einen halben Meter Bratwurst und einen Jumbobecher Glühwein mit Schuss. So gestärkt und beschwingt schlenderte ich an den Ständen vorüber, ›Jingle Bells‹ im Ohr, und betrachtete – inzwischen wohlwollend und gelöst – die gehäkelten Topflappen in Giftgelb und Signalorange, Objekte aus Kupfer, deren Bestimmungszweck sich mir zumindest in diesem Augenblick nicht erschloss. Schließlich gelangte ich an einen Stand mit Hüten, Taschen und Bommeln aus Filz. Ich versuchte mir die Mohnblüte mit einer mittelalterlich anmutenden Filzkappe vorzustellen, als mein Blick auf einen überdimensionalen Adventskranz fiel, der am rechten Rand der Theke stand und auf dem die erste grüne Kerze brannte; der ganze Kranz bestand ausschließlich aus Gewürzen, ja, er war ein |42| Rausch, eine Orgie aus Gewürzen: Nelken und Zimtstangen, Mohnkapseln und andere blütenförmige Dinge, deren Namen ich nicht kannte, die aber allerliebst aussahen.
    »Was kostet der?«
    Eine gelangweilte Verkäuferin unterbrach ihr Telefonat und nuschelte ein wenig genervt: »Der is nich zu verkaufen.«
    »Ich hätte ihn aber trotzdem gerne.«
    »Geht aber nich. Der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher