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Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Titel: Neunerlei - eine Weihnachtserzählung
Autoren: dtv
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gehört zur Deko.« Sie hielt sich wieder das Handy ans Ohr.
    »Nennen Sie mir einen Preis.«
    Das Mädchen, wahrscheinlich eine Schülerin, sagte jetzt: »Ich bin hier nur die Aushilfe. Kommen Sie wieder, wenn die Besitzerin da ist. Hallo? Ja und dann stell dir vor hat er   …«
    »Vielleicht könnten Sie die Dame kurz anrufen und sich erkundigen?«
    Sie sah mich aus ihren dick mit Kajal umrandeten Augen an, als wäre ich ein besonders lästiges Insekt. »Morgen ab vierzehn Uhr ist sie da.«
    »Entschuldigen Sie, wenn ich Ihr Privatgespräch störe, aber vielleicht   …« Mehr brauchte ich nicht zu sagen.
    »Ich muss Schluss machen.« Das Handy landete krachend auf der Theke. »Was wollen Sie?«
    »Den Kranz.«
     
    |43| Fünf Minuten später hielt ich, den Kranz vor der Brust wie ein Kellner ein Tablett, auf die Apotheke zu. Das Mädchen hatte sogar noch eine frische grüne Kerze gefunden, diese aufgesteckt und ihr privates Telefonat erst wieder aufgenommen, als ich die Scheine über die Theke schob.
    »Äh, puh, die Schlampe is doch wohl total durch’n Wind«, wehten mir ihre Worte als Abschiedsgruß hinterher und vermischten sich mit den Klängen von ›Süßer die Glocken nie klingen‹. Als ich schließlich bei der Apotheke ankam, war sie bereits geschlossen. Ich schob die Schuld sofort auf das Energiebündel am Filzstand. Sie war verantwortlich dafür, dass ich nun die ganze Nacht Zeit hatte, mir die richtigen Begleitworte für die Überreichung des Kranzes zu überlegen.
    In den nächsten Stunden ging ich alle Möglichkeiten von lässig-nebensächlich bis zu feierlich-tragend durch und fühlte mich am Ende wie Gregorius von Hohenlinden, der hochgewachsene und stattliche Held aus ›Verirrungen der Liebe‹, einer früheren Arbeit für den Rosa-Verlag. Wie man sich denken kann, schlief ich kaum und schlecht in dieser Nacht, und ich verfluchte die Idee mit dem Kranz, in die ich mich durch den Widerstand des Energiebündels festgebissen hatte.
    Was, wenn sie das Geschenk übertrieben fand? |44| Frauen wussten sicher, was so etwas kostete (im Gegensatz zu mir, der ich gezwungen gewesen war, zum nächsten Geldautomaten zu gehen, weil mein Hunderter nicht ausgereicht hatte). Vielleicht – und das wäre die denkbar schlimmste Variante – würde sie denken, ich erwartete eine Gegenleistung von ihr, vielleicht würde sie sich unter Druck gesetzt fühlen?
    In diesen Nachtstunden manövrierte ich mich selbst in eine gedankliche Sackgasse, und am Morgen ging es mir so schlecht, dass ich das ganze Vorhaben am liebsten abgeblasen hätte. Aber dann hätte der Kranz in meiner Wohnung herumgestanden und mir zumindest stündlich meine Feigheit vor Augen geführt.
     
    An jenem Morgen um zehn schlich ich wie ein geohrfeigter Galan, dem das Leben im Allgemeinen und die Umstände im Besonderen übel mitgespielt hatten, den Kranz vor mir haltend, die Treppe hinunter. Was, wenn der Laden voller Leute war, was, wenn sie wieder nicht da war? Ja, vielleicht ist sie gar nicht da, schoss es mir durch den Sinn, während ich mit dem Ellenbogen die Haustür aufdrückte und auf die Apotheke zusteuerte. Dann wäre ich gerettet.

Schon ein halbes Jahr nach der Scheidung heiratete mein Vater unsere Nachbarin. Wahrscheinlich hatte sie schon länger in den Startlöchern gestanden, und vielleicht hatte Mutter das auch gewusst und sich deshalb um Vaters Zukunft keine Sorgen gemacht.
    Mit den Geschenken für Hannelore gab ich mir immer besondere Mühe, auch wenn ich wusste, dass sie mich im Grunde auf den Tod nicht leiden konnte, schon damals nicht, als ich in ihrem Vorgarten die schönsten Frühlingssträuße gepflückt hatte. Und sie hatte es sich zur Gewohnheit werden lassen, mir jedes Jahr am 22.   Dezember ein Päckchen zu schicken, in dem sich entweder ein Paar Topflappen, ein Kochbuch vom Buchclub oder Geschirrhandtücher mit kindlichen Tiermotiven befanden. Wahrscheinlich wollte sie damit ihre hausfrauliche Überlegenheit über mein steriles Apothekerinnendasein demonstrieren.
    Ein paar Jahre nach Hannelores und Vaters |46| Hochzeit machte ich den Fehler, Heiligabend mit ihnen zu verbringen. Punkt achtzehn Uhr wurde unter dem Weihnachtsbaum beschert, und ich konnte meine Topflappen in jenem Jahr persönlich entgegennehmen. Als wir um zwanzig Uhr vor dem Fernseher landeten und die ›Tagesschau‹ schauten, glaubte ich zunächst, ein Déjà-vu-Erlebnis zu haben; ich fand mich in einer unangenehmen, aber vertrauten Szene wieder: dem
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