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Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Titel: Neunerlei - eine Weihnachtserzählung
Autoren: dtv
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wurde ich, weil mir die Ordnung gefiel: die vielen Schubladen, die Packungen und Fläschchen soldatisch nebeneinander im Regal, so bekam die Welt etwas Überschaubares. Auch fand ich den Gedanken beglückend, dass gegen so viele Krankheiten Pillen gedreht wurden.
    Nach meinem Studium setzte ich alles daran, ein eigenes Reich zu erwerben, ich sparte eisern und mit zusammengebissenen Zähnen, und im Jahr meines zweiunddreißigsten Geburtstags unterschrieb ich den Kaufvertrag für die Apotheke. Ich übernahm sie von einem schrulligen Alten und sie war ein wahres Juwel: Mit Apothekerschränken aus Mahagoni, die bis zur Decke reichten, und einem Tresen aus Teak, der, wenn die Abendsonne ihre schrägen Strahlen darauf warf, rötlich schimmerte.
    Zwischen allen Bewerbern, die damals auf den Laden spekulierten, war ich es, die den Zuschlag bekam. Erst Jahre später erfuhr ich den wahren Grund, warum der Alte mich auserwählt hatte: Meine Haarfarbe war ihm
passend
erschienen.

Die meiste Zeit des Jahres hatte ich mich bequem in meinem Leben eingerichtet. Ich arbeitete viel, und wenn ich arbeitete, ging es mir gut. Die Krisenzeiten waren der Sommerurlaub und die Feiertage, allen voran Heiligabend, dicht gefolgt von Ostersonntag, wenn glückliche Eltern, Kinder und Großeltern nach oder vor der Kaffeetafel einen Familienspaziergang machten und ich allein durch die Straßen schlich, ohne ein Ziel, doch mit dem sehnlichen Wunsch, eines zu haben.
    Sicher war einer der Gründe für meine Einsamkeit die Tatsache, dass ich ein Einsiedler war und träge. Ich arbeitete zu Hause, und eigentlich hätte ich die Wohnung nur alle paar Wochen verlassen müssen, um nicht zu verhungern. Ich gehörte zu jenen Menschen, die wochen-, ja vielleicht monatelang unbehelligt in ihrer Wohnung liegen konnten und schließlich nur deshalb entdeckt wurden, weil die Miete ausblieb und im Treppenhaus vor der Wohungstür ein strenger Geruch schwelte.
    |15| Als ich an jenem ersten Adventssonntag vom Friedhof nach Hause zurückging, war das Wetter für Spaziergänger zu schlecht, und das Viertel gehörte mir ganz allein. Auf dem Nachhauseweg grübelte ich noch eine Weile darüber nach, wie es kam, dass mir die Körnchen vage vertraut waren. Doch die Vertrautheit war eine seltsame, sie war wie aus einem Traum. Ich steckte die Hand in die Tasche und befühlte das eine Körnchen, das ich mitgenommen hatte. Ich dachte über das Glas nach und darüber, wer es dort hingestellt haben mochte, an diesem ersten Sonntag im Advent. Ich bog in meine Straße ein und kam an der Apotheke im Nachbarhaus vorbei. Im Inneren brannte Licht, die Apotheke hatte geöffnet. Bereitschaft, dachte ich und drückte die Tür auf.
    Als ich über die Schwelle trat, klingelte eine altmodische Glocke, und beim Nähertreten bemerkte ich, dass der Laden zu der Glocke passte: Ringsum holzvertäfelt, stand das rötlich schimmernde Holz im Gegensatz zu der Batterie an Schmerz- und Hustenmitteln, die hinter dem Tresen aufgereiht waren. Niemand war da. Mit einem leisen Erstaunen wurde mir in dem Moment bewusst, dass ich seit meinem Einzug in der Wohnung im Nebenhaus im Sommer kein einziges Mal krank gewesen war und dass es |16| seitdem das erste Mal war, dass ich eine Apotheke betrat. Als eine Stimme wie von weit her rief: »Ich komme gleich.«
    Die Frau, die kurze Zeit später den Raum betrat, einen Stapel weiße Medikamentenschachteln in der Hand, war klein und rothaarig, und ihre Augen steckten hinter dicken Brillengläsern. Ich zog das Körnchen aus der Tasche – es war inzwischen warm geworden in meiner Hand – und legte es vor ihr auf die Theke. Ich wand mich ein wenig, bevor ich mich zu fragen traute: »Vielleicht ist dies ein etwas ungewöhnliches Anliegen. Aber können Sie mir sagen, was das ist?«
    Sie griff nach dem Körnchen und ich sah, dass ihre Hände klein und zierlich waren und die Haut ganz weiß. Sie legte das Körnchen auf ihre Handfläche, führte die Hand zur Nase und roch daran. Dann rieb sie das Körnchen zwischen Daumen und Zeigefinger. Ich starrte sie an, die weißen Hände, die Nasenflügel, die bebten, als sich unvermittelt eine flammende Röte auf ihrem Gesicht ausbreitete und bis hinunter in den Kragen ihres Apothekerinnenkittels kroch. Unwillkürlich dachte ich an Mohnblumen. Die Frau legte das Körnchen auf die Theke und sagte ein wenig heiser: »Piment.«
    Ich betrachtete sie aufmerksam. Sie erinnerte |17| mich an irgendjemanden oder irgendetwas, aber ich kam nicht
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