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Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Titel: Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
Autoren: Meira Pentermann
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zu erkennen waren. Die von zerklüfteten Felsvorsprüngen und Hochebenen umgebene fruchtbare Landschaft beruhigte sein Gemüt.
    „Westdeutschland“, sagte er plötzlich und nahm die Bedeutsamkeit dieses Moments in sich auf.
    Natalia starrte ihn verwirrt an. „Was?“
    Er lächelte seine Tochter an. In ihren Augenwinkeln bildeten sich Tränen und verrieten einen Hauch von Gebrechlichkeit. Angesichts ihres Muts und Durchhaltevermögens während der letzten drei Tage hatte Leonard beinahe vergessen, wie unschuldig sie in Wirklichkeit doch war. Er strich ihr eine Locke aus dem Gesicht und antwortete: „Freiheit, Nat.“
    Die Tränen liefen nun ungehindert ihr Gesicht herunter, sie lehnte ihren Kopf seitlich gegen Leonards Brust und blickte auf die vor ihnen liegende Stadt.
    „Ich wünschte, Mom wäre hier“, flüsterte sie.
    Er küsste sie auf den Kopf. Plötzlich spürte Leonard, wie sich ein Brennen seinen Hals hinaufarbeitete und er konnte nur noch ganz verschwommen sehen.
    „Ich auch.“

Kapitel Siebenundreißig

     
    Ein paar Monate später hatte sich die Familie Tramer eingelebt und ein kleines Haus westlich des Stadtzentrums gemietet. Natalia war begeistert von ihrer neuen gemischtrassigen Schule. Sie schien überrascht, dass die Mittelschule noch nie getrennten Unterricht gegeben hatte. Die meisten Kinder in Mesa County waren entweder aus der Gegend oder hatten Denver verlassen, bevor das Bildungsministerium die Kontrolle über den Lehrplan der öffentlichen Schulen übernommen hatte. Daher hatten sie noch nie von Inzuchtlern oder Schmelztieglern gehört. Sie sammelten sich in Scharen um sie, denn sie hielten sie für eine welterfahrene Dame mit sonderbaren Geschichten über die in Gefangenschaft lebende Welt und deren Grausamkeiten. Dies verlieh Natalia einen Schub Selbstbewusstsein und half ihr dabei, aus ihrem Schneckenhäuschen zu kommen.
    Leonard verschaffte sich eine Stelle bei dem IT–Unternehmen, das für das Hacken der Satelliten und die Übermittlung falscher Informationen an die Regierung verantwortlich war. Leonards Projektleiter, Seamus McAllister, nannte die Firma liebevoll die Streber–Brigade, aber sie besaß eine beeindruckende Ansammlung von Gerätschaften. Leonard arbeitete sich innerhalb einer Woche gut ein, schrieb alle Informationen über das Stasi–Projekt nieder, an die er sich noch erinnern konnte, und entwickelte einen Plan, mit dem es der Streber–Brigade unter Umständen möglich wäre, das Computernetzwerk des ABVs zu hacken.
    „Theoretisch könnten wir Kontrolle über die Stasi–Satelliten übernehmen, während sie im Orbit sind“, sagte Leonard, wobei seine Augen funkelten. Sich einem unmöglichen Projekt mit zwanghafter Hingabe zu widmen, war schließlich sein Spezialgebiet.
    „Ich habe vollstes Vertrauen in dich“, entgegnete McAllister geistesabwesend. Der riesige, zerzauste Rotschopf schien wie besessen, während seine Finger über die Tastatur flogen. Plötzlich sprang er von seinem Stuhl, ging zum anderen Ende des Raumes und setzte sich an einen anderen Computer.
    „Seamus“, rief eine bekannte Stimme.
    „Wicker“, entgegnete Seamus.
    „Hast du’s ihm schon erzählt?“
    Leonard wirbelte herum. „Hat er wem was erzählt?“
    Wicker boxte ihrem Freund auf den Arm. „Das glaub ich ja nicht.“
    „Lassen wir ihn raten.“ Seamus grinste.
    „Du bist unglaublich fies.“
    Ihr unbekümmerter Umgangston beruhigte Leonard. Was auch immer die Neuigkeiten waren, es war etwas Erfreuliches. Dennoch wunderte er sich, ob es wohl sein Schicksal war, fortan mit spitzbübischen, irischen Rotschöpfen zusammenarbeiten zu müssen.
    „Warum erzählst du es ihm nicht?“, sagte Seamus.
    „Mit Vergnügen.“
    Sie holte sich einen Stuhl, setzte sich darauf und rollte mit ihm auf Leonard zu, bis sie etwa einen Meter von ihm entfernt war. „Wir haben Neuigkeiten von Shinskey. Dr. Marsh–Tramer praktiziert wieder in der Neil Nelson Klinik.“
    Leonards Herz fing an zu rasen. „Oh mein Gott. Wie?“
    „Für gewöhnlich setzt die Regierung für politische Gefangene, die nicht mit CARS infiziert sind, einen Schauprozess an“, erklärte sie. „Der Staatsanwalt arbeitet für die Regierung. Der vom Gericht bestellte Strafverteidiger arbeitet ebenfalls für die Regierung. Der Richter wurde entweder ordentlich bestochen oder lebt in ständiger Angst, unvorhergesehen entlassen zu werden. Du verstehst schon.“
    Leonard nickte.
    „Normalerweise dauert eine Verurteilung weniger
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