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Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Titel: Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
Autoren: Meira Pentermann
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verrückten Idee gewesen wärst, dass du die Vergangenheit ändern kannst!“ Sie zeigte auf die offene Tür an der gegenüberliegenden Wand. „Diese lächerliche Idee, dass du eine Zeitmaschine in deinem Schrank bauen kannst?“
    Leonard sah auf seine Füße. „Geh jetzt.“
    „Leo, ich—“
    „Geh jetzt“, sagte er mit tiefer und bedrohlicher Stimme. Als er aufsah, war sie fort.
    Michelle, Lisa, Brenda und eine Reihe anderer Frauen kamen und gingen und bedeuteten Leonard wenig. Eigentlich waren sie nur eine Ablenkung. Chatroom–Bekanntschaften. Blind Dates spät in der Nacht in irgendwelchen Bars. Frauen vom Typ Florence Nightingale, die wild entschlossen schienen, seine Wunden zu heilen. Was wollten diese Frauen eigentlich von ihm? Die Liebe seines Lebens hatte er wegen seiner Besessenheit verloren und gelobte nun mittlerweile zum sechzehnten Mal, dass er Frauen für immer abschwören würde.
    Er setzte sich zurück an seinen Schreibtisch und nahm die Arbeit wieder auf.
    ***
    Um 2:09 Uhr erwachte Leonard aus einem weiteren Albtraum. Seit nun über einunddreißig Jahren wurde Leonard drei– bis fünfmal die Woche von ein und demselben Albtraum verfolgt und angetrieben. Die Bilder, viel detaillierter als noch zu Anfang, waren in Leonards Gedächtnis eingebrannt und offenbarten Einzelheiten, die er damals niemals hätte mitbekommen können – ein elfjähriger Tommy Richardson, der, in der Hoffnung, damit den Aufprall zu verringern, seine Hände gegen die Lehne des Beifahrersitzes stemmte; das schreckliche Schreien des Jungen, während sich das Fahrgestell verbog und sein kleiner Körper zerquetscht wurde; das blutüberströmte Gesicht; die Augen starr vor Angst, leblos, leer.
    Leonard setzte sich auf und rieb seine Schläfen. Seine Tränenkanäle waren schon lange durch übermäßigen Gebrauch ausgetrocknet und zuckten bei dieser erneuten Reizung nur noch ein wenig. Er seufzte, taumelte zum Wandschrank und betrachtete den nutzlosen Apparat, der nach jahrzehntelangem Forschen und Experimentieren entstanden war.
    Ein kleiner Stuhl stand in der Mitte der sechzehn Quadratmeter großen Fläche. Schwere Plastikhandschuhe hingen in der Luft und umfassten ein an der Wand befestigtes Lenkrad. Ein Zahlenfeld und ein kleiner Bildschirm leuchteten auf Augenhöhe. Die an Bodenpedalen befestigten Stiefel verliehen dem Ganzen einen gruseligen Anblick, so als würde ein körperloser Fahrer am Steuer eines Geisterfahrzeuges sitzen. Neben den Stiefeln lag ein kleiner Feuerlöscher auf der Seite. An den Wänden und an der Decke hingen in scheinbar willkürlichen Abständen Drähte und Leiterplatten. Mehrere Computer standen aufeinandergestapelt in der Ecke und versanken in einem Kabelwirrwarr. Von der Decke hing ein Helm mit dunklem Visier an einer einziehbaren Leitung herunter. Links vom Stuhl befand sich ein riesiger, senkrecht aufragender Hauptschalter und schien förmlich darauf zu warten, dass der körperlose Fahrer zum Leben erwachte und den Hebel umlegte.
    Ein nicht funktionierendes Virtual Reality–Spiel, das Lebenswerk eines Mannes.
    Leonard holte eine Leiterplatte, die er früher am Abend, bevor er erschöpft in den Sessel gefallen war, fertig gelötet hatte. Er stellte sich auf den Stuhl im Schrank, entfernte einige Drähte und fügte anschließend die Platine dem wirren Schaltkreis an der Decke hinzu.
    Sein frisch gelöteter Draht war einige Zentimeter zu kurz.
    „Scheiße.“
    Er fing an die Drähte links zu entdrillen, hielt dann aber plötzlich inne und starrte die Belegung an der Decke an, als würde ihm auffallen, dass etwas fehlte. Er zählte die Platinen und verfolgte die Drähte mit den Fingern, um zu sehen, wo sie hinführten.
    Leonard sprang vom Stuhl, rannte zu seinem Schreibtisch und riss eine große Schublade auf der rechten Seite auf. Darin befanden sich Dutzende Konstruktionsbücher mit Notizen und Diagrammen. Er blätterte wild durch alle Bücher, bis er fand, wonach er gesucht hatte – Buch sechs, das er vor zwanzig Jahren fertiggestellt und anschließend nie wieder in die Hand genommen hatte. Er blätterte durch das Buch, stoppte irgendwo in der Mitte und sah sich die Diagramme auf der Seite ganz genau an. Er schüttelte lachend den Kopf.
    Du Idiot.
    Zwei Stunden später, nachdem er die Platinen sorgfältig voneinander getrennt und neu verbunden hatte, trat Leonard einige Schritte vom offenen Wandschrank zurück und bewunderte sein Werk. Es ist nicht das erste Mal, dass du denkst, du hättest
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