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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition)
Autoren: Ingo Schulze
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brauche. Ich fragte, was BI bedeute, weil ständig von BI s die Rede war (Bürgerinitiative), auch vom »Krötensammeln«. Die meisten sagten: »Ich bin in der BI Fluglärm und sammle Kröten.« Ich erkundigte mich bei meiner Nachbarin nach den Kröten. Sie verstand mich nicht. Plötzlich aber kreischte sie: »Wisset ihr, was der Enrigo glaubd, was Kröhdesammle isch?«
    In dem kleinen Tumult, der folgte, übertönte eine sehr schöne Frau mit ihrem Singsang alle anderen: »Jetzscht hond sie sich verrade! Jetzscht hond sie sich verrade!«
    Michaela hielt tapfer zu mir. Sie habe dieselbe Assoziationgehabt. Kröten sei in der Tat ein gebräuchliches Synonym für Geld. Sie selbst benutze den Ausdruck oft.
    Sie sammeln tatsächlich diese Tiere und schaffen sie über die Straßen. Sogar Tunnel werden für die Kröten gebaut.
    Warum denn wieder niemand von der Umweltbibliothek oder der Menschenrechtsgruppe mitgekommen sei, stellte uns die schöne Frau zur Rede und resümierte, bevor wir antworten konnten: »Sin hald doch nur de alde Bonze.« Michaela berichtete von ihrem »klartext«, und ich spürte, wie gern sie wieder von Leipzig und alldem gesprochen hätte, wenn sie nur jemand danach gefragt hätte. »Wir gehören nicht zur offiziellen Delegation!« rief sie. »Wir gehören nicht dazu!« In der neuen Zeitung, sagte ich, wird die Umwelt eine wichtige Rolle spielen. Ich klang irgendwie schlapp, und außerdem gab es kaum noch Zuhörer. Zum Schluß saßen wir mit einem Ehepaar zusammen, das von seinen Besuchen in Weißwasser und Karl-Marx-Stadt erzählte, und tranken Mineralwasser. Wir hatten Hunger.
    Auf der Rückfahrt verfuhr ich mich, erst gegen elf fanden wir die »Sonne«. Jörg kam uns entgegengestürzt.
    »Alles futsch«, rief er, »alles futsch!«
    Wolfgang thronte in Anzug und Krawatte im Foyer. Wie bei einem betrunkenen Bacchus hingen die Arme schlaff über den Armlehnen herab, sein Haarkranz stand aufrecht.
    »Und wo wart ihr?« herrschte er uns an, in seine Arme kam Leben, sie paddelten durch die Lüfte, erreichten die Seitenlehnen, es sah aus, als wollte er sich erheben, seine Augen quollen hervor – dann sank er wieder zurück. Als er die Augen schloß, glaubte ich, er beginne gleich zu weinen.
    »Sie haben uns nicht mal was zu essen angeboten!« rief Michaela. Jörg rieb sich unablässig Augen und Stirn. Georg lief auf seinen langen Beinen hin und her, den Oberkörper krumm wie ein Jockey.
    Jan Steen habe den ganzen Abend in einem »Nobelrestaurant« im Schwarzwald auf uns gewartet. Wolfgang sei alle zwanzig Minuten zum Telephon gegangen. Um zehn habe Steen wütend die Serviette auf den Teller geworfen und sei nach Hause gefahren. Ob wir ihn je wieder zu Gesicht bekämen, stehe in den Sternen.
    »Und woher sollten wir das wissen?« fragte Michaela. »Es hat niemand gewußt!« rief Jörg. »Niemand, niemand, niemand!« Statt zu antworten, orakelte Wolfgang etwas von einem dicken Fisch, der uns durch die Lappen gegangen sei, ein ganz dicker! Dieser Satz bereitete ihm eine grimmige Freude, ja er schien sich selbst damit zu trösten, denn etwas anderes bekamen wir von ihm in dieser Nacht nicht mehr zu hören.
    Jörg und Georg saßen auf unseren Betten. Wir pellten die Eier auf das Deckchen unseres Nachttisches. Unser Luxus bestand darin, die Klappbrote, die wir am Abend zuvor geschmiert hatten, untereinander auszutauschen. Dazu gab es kalten Tee aus dem Deckel der Thermoskanne.
    Nun waren wir wieder dieselben Leute, die heute früh in Altenburg einen Wartburg bestiegen hatten. Zwischen jenem längst vergangenen Morgen und unserem Abendbrot lag nur ein seltsamer Traum.
    Michaela hörte plötzlich auf zu kauen. »Vielleicht ist das unser Frühstück!« sagte sie und legte die angebissene Schnitte zurück auf den Tisch. »Und wer bezahlt jetzt die Zimmer?« Wir besaßen zusammen knapp siebzig D-Mark. Georg beschwichtigte uns. Er aber hatte auch als einziger gegessen! Das Traurigste an der Sache sei, fand Michaela, daß Steen in einem
Nobel
restaurant auf uns gewartet hätte.
    Morgens weckte uns tatsächlich ein Hahnenschrei.
    Später ließen wir uns jeder einzeln versichern, das Frühstücksbuffet gehöre zur Übernachtung, und die sei bereits für zwei Nächte bezahlt. Wolfgang trafen wir weder im Speisesaal,noch fanden wir ihn in seinem Zimmer. Wir hockten sozusagen mit Entlassungsschein im Paradies. Michaela am Arm des Bürgermeisters zierte die Titelseite der örtlichen Zeitung.
    Der zweite Tag verging sang-
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