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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition)
Autoren: Ingo Schulze
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nach dem Glas, stutzte jedoch, weil niemand sich rührte.
    »Bar«, rief Wolfgang und erhob seinerseits das Glas, »cash heißt bar!«
    Stille. Jörg sagte, bar sei gut, sehr gut. Da wurde Steens Körper ein Stück angehoben, sein Mund platzte auf und ließ ein Lachen los, ein Lachen, das von den Wänden schallte und wie ich es mein Lebtag noch nicht gehört hatte. »Cash«, jaulte Steen, sobald er eines Wortes fähig war, katapultierte sich jedoch gleich wieder mit einer Lachsalve hinauf, japste, verschluckte sich, hustete, »baaar!«. Sein Doppelkinn schüttelte sich zornig. Inzwischen rüttelte das Lachen auch an Wolfgang.
    Je länger der Anfall währte, desto taktloser erschien er mir. Wolfgang wurde leiser und kniff schließlich nur noch die Augen zusammen, als hätte er bereits alles Lachen aus sich herausgepreßt.
    »Bar ist sehr gut!« rief Steen. Mit einem zusammengefalteten Taschentuch fuhr er sich über den Mund, erhob sich und ging Michaela entgegen. An seinem Arm geleitete er sie zum Tisch. Als Paar stachen die beiden von uns ab wie Opernbesucher in der Straßenbahn.
    Zu spät bemerkten wir, daß Steen jedem nur zuprostete, während wir klanglos miteinander anstießen. Ich leerte mein Glas auf einen Zug. Die Lebensgeister kehrten allmählich wieder. Die Blumen auf dem Tisch waren entgegen dem ersten Eindruck echt.
    Es gab Spätzle mit Hirsch in einer unglaublichen Sauce. Steen bestrich jede Gabelladung zusätzlich mit einer Art Konfitüre. Die Vorsuppe war aus Brokkoli (sie zeigten uns eine rohe Staude, soähnlich wie Blumenkohl, aber dunkelgrün). Steen dozierte ununterbrochen übers Essen, als sei alles andere geklärt, und verschwand nach einer knappen Verabschiedung vor dem Nachtisch, einem dunklen italienischen Kuchen, weich und feucht und sahnig. 27
    Ich weiß nicht, wann ich Michaela das letzte Mal so ausgelassen und schön gesehen habe wie bei diesem Essen. Als wir vom Tisch aufstanden, fragte sie, worüber Herr Steen denn so gelacht habe, und Georg antwortete, das sei ihm auch nicht ganz klargeworden. Aber Herr Steen hege die Absicht, uns zwanzigtausend D-Mark in die Hand zu drücken. Für zwanzigtausend D-Mark, sagte Michaela, könne man diese Ungewißheit in Kauf nehmen.
    Um fünf sollten wir in Offenburg sein. Wir hatten uns hingelegt und ein wenig verschlafen, doch als wir ankamen, stieg die Altenburger Delegation gerade erst aus dem Bus. Die Offenburger waren irritiert, keinen Anführer in dem erwartungsfrohen Haufen ausmachen zu können. Ihr braungebrannter Bürgermeister schüttelte alle Hände und stellte sich trotz seiner Größe immer wieder auf die Zehenspitzen, als fürchtete er, jemanden übersehen zu haben. Wie zuvor Steen bot er Michaela seinen Arm und führte sie ins Rathaus, wo er eine Art Führung mit uns veranstaltete. Er legte Wert darauf, daß Michaela jeden Raum vor ihm betrat.
    Wir bewunderten die cremefarbenen Teppichböden, die Computer, die Schreibtische, die Tastentelephone und ließen uns in den Sessel des Bürgermeisters fallen. Zum Abschluß wurde mit Sekt angestoßen, das Knabberzeug war schnell weg.
    Ein zierlicher Mann in einem gelben Pullover blieb wie zufällig neben mir stehen und fragte nach einer Weile, ob
ich
ihm vielleichtetwas erklären könnte. Er bedankte sich im voraus und schilderte mir sein Problem: Täglich erhalte er aus Altenburg zehn bis zwanzig kleine Päckchen, in jedem befinde sich ein Skatspiel mit einer farbigen weiblichen Aktphotographie als Deckblatt. Die Leute wünschten sich Adressen in Offenburg. Er sah mich an. Was denn nun die Frage sei, wollte ich wissen. Mit einem Finger fuhr er sich in den Kragen seines Pullovers, betrachtete mich noch einen Moment, dankte mir und entfernte sich so unbemerkt, wie er erschienen war.
    Für uns Zeitungsleute waren Empfänge bei den verschiedenen Parteien geplant, mit Ausnahme der FDP (die hat nur fünf Mitglieder, sitzt aber im Stadtparlament).
    Michaela wollte zu den Grünen, Jörg war bereits an die SPD vergeben, und für Georg blieb nur die CDU .
    Keiner von uns ahnte, welchen Fehler wir damit begingen.
    Für die Grünen waren Michaela und ich jedenfalls eine Enttäuschung. Nachdem wir uns vorgestellt und um einen Aschenbecher gebeten hatten, begann die Vorstellungsrunde. Wer sprach, sah uns unentwegt an, weil alle anderen quatschten und kicherten. Michaela hatte anfangs die Namen und die verschiedenen Tätigkeiten mitgeschrieben, doch hörte sie damit auf, als man sie fragte, wofür sie das denn
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