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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition)
Autoren: Ingo Schulze
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Amtsstuben. Zuerst erschrecken sie, wenn sie Zeitung hören. Die Sekretärinnen begreifen in aller Regel schneller als ihreChefs, daß ihnen von mir keine Gefahr droht, und sind äußerst freundlich. Robert kommt manchmal mit. Während der Fahrt reden wir über alles mögliche. Er hat klare Vorstellungen von meinen Aufgaben. Die Zeitung deckt alles auf und sorgt überall für Gerechtigkeit. Die Stunden mit ihm genieße ich sehr.
    Am Freitag, dem 16. Februar soll die erste Ausgabe erscheinen. Das klingt wie ein Märchen. Man denkt sich was aus, man macht es und lebt davon. Als kehrten wir zu einem vergessenen Brauch zurück, zu einer Lebensweise, wie sie eigentlich allen Menschen vertraut ist, nur uns nicht.
    Am Dienstag werden wir für drei Tage nach Offenburg reisen, unabhängig von der offiziellen Altenburger Delegation. Ein Gönner 21 spendiert uns die Übernachtungen. Hoffentlich hält unser Jimmy 22 durch.
    Verotschka, Liebste! Ich umarme Dich!
    Dein Heinrich

 
     
    Donnerstag, 25. 1. 90
     
    Verotschka,
    stell Dir vor, wir würden das Geld umtauschen! Vielleicht hundertvierzig-, hundertsechzigtausend? Ein Irrwitz! Aber das schönste waren trotzdem die Telephonzellen. 23 Ist es denn zuviel verlangt, Dich einmal am Tag hören zu dürfen?
    Manchmal dachte ich, es gibt ihn noch, den Westen. Immer wieder diese Träumereien und alten Reflexe. Leute wie Gläsle – der Mann im Rathaus, der nicht verstand, warum die Altenburger haufenweise diese Skatspiele schicken 24 – müssen uns für Barbaren gehalten haben.
    Georg, der mit Gläsle telephoniert hatte, war der Meinung, wir seien eingeladen, uns aus ihrem Fundus an Büroutensilien nach Herzenslust zu bedienen. Gläsle führte uns unweit des Rathauses auf einen Dachboden, der als Lager diente. Wir fielen sofort über die Herrlichkeiten her. Kaum aber hatten wir die Taschen voller Filzstifte, Tesafilm, Radiergummis und bunter Büroklammern, leerten wir sie wieder, um statt dessen Ablagefächer und durchsichtige Folien, Ordner und Prittstifte einzustecken. Sogar auf eine weiße Magnettafel erhoben wir Anspruch. Wir plünderten wie im Rausch. Ein paar Minuten später verstand ich mich selbst nicht mehr. Wie hatten wir das tun können, ohne ein einziges Mal nachzufragen!? Wir mußten wieder alles auspacken, es wurde gezählt und aufgelistet und gerechnet, mehr und mehr Sachen legten wir zurück. Gläsle war noch bleicher als wir. Gott sei Dank hatte Georg das Kuvert mit dem Geld parat. Das Ganze stellte sich als Gläsles Versuch heraus, uns etwas Gutes zu tun, indem er das Bürozeugs mit dem Rabatt der Stadtverwaltung an uns weitergab. Damit verstieß er gegen die Vorschriften. Er ermahnte uns, keinesfalls darüber zu reden. Gläsle zauberte dann doch noch, indem er die Abdeckung von einer riesigen elektrischen Schreibmaschine zog. Das sei das »grüne Ungeheuer«, sagte er, ob wir die nicht haben wollten,einen Sack voll Farbbänder gebe es dazu. Die, ja, die könne er uns schenken! Gläsle war regelrecht erlöst und überlegte laut, was er uns außerdem mitgeben könnte, aber schon die Maschine war ein Problem. Schließlich kam sie zwischen Georg und Jörg auf den Rücksitz, breit und grün wie eine riesige Kröte.
    Wir müssen erst zivilisiert werden. Wir haben nicht unbedingt aus Charakterschwäche versagt, sondern weil unser ganzes Sensorium nicht stimmt.
    Mit zweihundert D-Mark in der Tasche wurden die Schaufenster erst so richtig interessant. Stehenbleiben oder Weitergehen bedeuteten nun nicht mehr dasselbe wie zuvor. Warum wir ausgerechnet in einem Topfladen landeten, kann ich Dir nicht erklären. Ich mußte nur einen der schweren Deckel anheben, um der Faszination zu erliegen. Ich hielt den Topfrand für magnetisch, denn dieser schien den Deckel anzuziehen und automatisch für den perfekten Sitz zu sorgen.
    Wir deckelten uns gerade durch den Laden, als Wolfgang, der Hüne, eintrat. Er ging auf unser Spiel ein, die Verkäuferin versuchte die jeweiligen Vorteile aufzuzählen, indem sie von Eintöpfen, Suppen, Gemüseaufläufen, Spätzle, Braten und überhaupt von allen Gerichten schwärmte, die je in dieser Stadt auf den Herd gekommen waren.
    Wir lauschten. Wolfgang klopfte mit den Fingerknöcheln gegen die Töpfe, als prüfte er eine Glocke auf die Reinheit ihres Klangs.
    Irgendwann war klar, wir würden unser Geld in diesem Laden lassen. Wir hatten uns schon auf zwei Töpfe ohne Deckel geeinigt, als uns Wolfgang einen Fünfziger zusteckte. Jetzt reichte es für
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