Neue Leben: Roman (German Edition)
noch derselbe Stopfpilzgeruch.
Plötzlich griff Mamus nach einem Photo, betrachtete es über die Brille hinweg – ein schönes junges Paar – und rief: »Was machen denn die hier!« Sie zerfetzte das Photo mehrmals wie einen Scheck, auf dem sie sich verschrieben hat. »Da warst du noch nicht mal geboren!« beschied mich Mamus. »Wildfremde Leute!« Die Schnipsel behielt sie in der Hand und gab weiter Erklärungen zu den Photos, die Robert ihr hinhielt. Zwei Photos von Dir habe ich heimlich eingesteckt. Manchmal fürchte ich, das Getrenntsein nicht länger zu ertragen. Wenn ich nur Deine Pläne erriete!
Zum Abendbrot waren wir bei Johann. Seine Episteln werden kürzer. Ich hatte hier noch ein Dutzend davon liegen und mußte sie notgedrungen vor der Fahrt lesen. Bei der Lektüre dachte ich, daß er vielleicht Material für einen Roman über eine Kirchengemeinde sammelt. Seit er Franziska die Sache mit mir gestanden hat 31 , verhält er sich mir gegenüber ziemlich rüde, besonders in ihrer Gegenwart. Kaum daß er sich traute, mir die Hand zu reichen. Er müsse »noch schnell etwas beenden«, rief er und verschwand. Also warteten Robert und ich in der Küche, halfen Franziska beim Tischdecken und sahen aus dem Fenster auf die Stadt. Franziskas ganze Anmut ist in den letzten zwei Jahren verflogen. Sie spricht ganz offen über ihre Trinkerei und daß sie jetzt eigentlich damit aufhören müsse. Wenn man sie reden hört, könnte man meinen, sie habe einfach keine Zeit, eineEntziehungskur zu machen. Johann hat mir mal vor ein paar Jahren anvertraut, daß er manchmal Streit provoziere, weil er diese Spannung brauche, um produktiv werden zu können. Daran muß ich jetzt denken, wenn ich Franziska so sehe.
Sie kennt meine Briefe, weil Johann sie ihr vorliest, als Beweis, daß zwischen ihm und mir »nichts mehr läuft.«
Gesine wird bald fünf. Auf den ersten Blick scheint sie von der ganzen Misere unberührt zu sein. Sie erkor Robert zu ihrem Ritter, führte ihn durch die Wohnung und spielte ihm auf dem Klavier vor. Für sie war die Tatsache neu, daß es auch Menschen gibt, die kein Instrument beherrschen.
Auf Johann warten nach Ende des Vikariats drei Gemeinden im Erzgebirge, nicht weit von Annaberg-Buchholz. Franziska und er sind schon dort gewesen, das Haus ist groß und hat einen riesigen Obstgarten. Vor einem Jahr, sagte Franziska, wäre es gar nicht so weit gekommen, da hätte sich Johann schon irgendeine Arbeit gesucht, bei der ihm genügend Zeit für sein Schreiben und die Band geblieben wäre. Franziska will um keinen Preis Dresden verlassen, jedenfalls nicht in Richtung Annaberg. Und dann kam der Hammer! Sie war überzeugt, ich wisse bereits, daß Johann bei den Kommunalwahlen kandidieren will! Vor drei Wochen hat er mir noch vorgeworfen, ich würde die Kunst verraten.
Als ich ihn später danach fragte, druckste er herum. Er habe es mir sagen und nicht schreiben wollen. Er habe sowieso keine Chance, er tue es aus Verantwortung, man habe ihn gedrängt, jetzt lasse sich vielleicht etwas bewegen. Er klang wie jemand, der gerade »Kandidat der Partei« 32 geworden war. Ich sagte, daß er kein schlechtes Gewissen haben oder sich rechtfertigen müsse und daß ich seine Entscheidung richtig fände.
Ein bißchen zu beiläufig erwähnte er noch, ein Buch über die Dresdner Ereignisse im letzten Oktober herausgeben zu wollen. 33 Jo grollt seinem Schicksal, weil es ihm verwehrt geblieben ist, inhaftiert, verhört und geschlagen worden zu sein. Glaub mir nur, ich kenne ihn!
Von Jo kam keine Frage. Seine Zurückhaltung, um nicht zu sagen Kälte, lähmte mich. Ohne Franziska, die uns ständig etwas anbot, Tee nachschenkte und sich um Robert bemühte, wäre es wie ein Rauswurf gewesen.
Als ich von Dir erzählte, taute er langsam auf, um mich plötzlich mit einer Herzlichkeit anzulachen, die mich hilfloser machte als sein Schweigen. Er sprang auf und schenkte mir ein Buch, das er antiquarisch ein zweites Mal bekommen habe – die Erstausgabe von Eislers »Faustus« 34 –, sagte, daß wir uns unbedingt öfter treffen müßten, gerade jetzt. Am Ende blieben sowieso nur wenige Freunde übrig. Absurderweise bestand er darauf, uns Schnitten für die Fahrt zu schmieren, es könnte ja einen Stau geben. Robert und ich zeigten dann abwechselnd auf das, was wir wollten, und sahen beim Verfertigen unserer Klappstullen zu. Wie ein Maurer, der etwas verputzt, verteilte Jo die Butter bis an den äußersten Rand, strich auch danach
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