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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
Autoren: Stefanie Zweig
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gekauft hatte. »Ich habe als Kind immer die Gläser ausgeleckt, wenn es niemand gesehen hat«, erzählte er. »Ach, du liebe Zeit, wir haben ja gar keine Gläser. So geht’s aber auch.« Er schenkte in die Eierbecher ein und trank den ersten auf einen Zug leer. Nach dem dritten und eine Stunde später sagte er: »Mutter hatte ja so recht. Man kommt sich so wunderbar reich vor, wenn man Danziger Goldwasser trinkt, hat sie immer gesagt.«
    »Offenbar schlafen reiche Leute am Tisch ein, wenn sie zu tief in ihre Eierbecher schauen«, lachte Fanny. »Du hast noch nicht einmal gemerkt, dass es eben geklingelt hat. Dreimal. Sturm! Soll ich aufmachen?«
    »Lass mal. Es ist der Mann, der hinausmuss ins feindliche Leben. Mein Gott, Betsy, du bist ja kreideweiß. Du musst dich doch nicht aufregen, wenn es klingelt. Nicht mehr. Es steht keiner mehr vor dieser Tür, den ich nicht im hohen Bogen rausschmeißen kann, wenn ich will.«

2
Schalom, Ora!
September 1948
    Weil er unsicher war und Zeit brauchte, um seine Unruhe niederzukämpfen, drückte Fritz unverhältnismäßig lange auf den Summer der Haustür. Am Luftzug im Hausflur merkte er, dass sie unmittelbar nach dem ersten Summton aufgestoßen wurde, doch erst nach einer Weile ging ihm auf, dass sie nicht wieder zurück ins Schloss gefallen war. »Typisch«, murmelte er ungehalten. Er lehnte sich so weit über das Treppengeländer, dass er den oberen Rahmen des Flurfensters sehen konnte, und rief: »Hallo.«
    Die Haustür, im Krieg beschädigt und erst seit zwei Monaten wieder in ihrem einstigen Zustand, blieb nur offen stehen, wenn sie einer hielt oder mit einem kleinen Hebel festklemmte, der auf der Rückseite angebracht war. Den kannten allerdings nur die Hausbewohner und zu deren Leidwesen auch die Hausierer, die neuerdings wieder primitiven Hausrat und Korbwaren anboten, und die Bettler – seitdem es wieder Lebensmittel in den Geschäften zu kaufen gab, aber viele Menschen nicht genug Geld hatten, um das zu tun, standen täglich erbärmliche Gestalten vor der Tür.
    »Wird’s bald?«, rief Fritz ins Treppenhaus. Für Leute, die nichts von den Narben wussten, die Verfolgung und Todesangst im Leben des Dr. Friedrich Feuereisen hinterlassen hatten, hatte er die kräftige Stimme eines Mannes, der überraschende Besucher an einem Sonntag als Zumutung empfindet. Fritz riss das Fenster im Flur auf und schaute in den Hof hinunter, doch er sah nur zwei kleine Mädchen, die Federball spielten. Nervös rüttelte er am Fenstergriff, die nie überwundene Angst des Gejagten, der die Falle sieht und trotzdem auf sie zuläuft, kroch in ihm hoch.
    Sollte ein Mann, der um sein Leben lief, die Treppen hoch zum Speicher rennen oder in den Keller flüchten? Es war höchste Zeit, mit Betsy über die schwere Luftschutztür im Keller der Hauswirtin zu reden. In der Stunde der Not war die Tür nicht rechtzeitig aufzubekommen. Auch der komplizierte Schlüssel, der verkehrt herum ins Schlüsselloch gesteckt werden musste, war eine Gefahr, wenn jede Minute zählte. »Der Schlüssel«, stöhnte Fritz.
    Als er seine Stimme hörte – schwach und kinderängstlich –, kehrte er in die Gegenwart zurück. Er war beschämt und mutlos, als ihm aufging, dass der tüchtige, entscheidungsfreudige Jurist Dr. Feuereisen, der sich von niemandem etwas vormachen ließ, sich von der Haustürglocke zum Narren hatte halten lassen.
    »Hallo«, rief er wieder. »Wer zum Kuckuck ist denn da?« Seine Stirn war schweißnass, die Augen brannten. »Verdammte Sauerei«, schrie er empört. »Ebe langt’s!«
    Zum ersten Mal seit der Flucht aus seiner Geburtsstadt hatte Fritz Frankforterisch gesprochen. Sein Herz trommelte, mit Knüppeln schlugen die Jahre der Verzweiflung, die Angst und der Zorn auf ihn ein. War er überhaupt der Mann, der nach Hause geschrieben hatte: Menschen ohne Heimat haben noch nicht einmal eine Muttersprache?
    Nur um zu prüfen, wie es um diese Muttersprache stand, rief Fritz noch einmal: »Ebe langt’s.« Er stellte sich auf die Zehenspitzen, lauerte, wie ein alter Mann, mit der Hand am Ohr auf Antwort, hörte ein Motorrad auf der Straße, dann einen Hund bellen und schließlich den eigenen Atem. »Nicht mit mir«, drohte Fritz, »nicht mit mir. Das haben wir alles schon gehabt, Mynheer.« Das holländische Wort tat ihm gut.
    Plötzlich bemerkte er, dass Fanny hinter ihm stand. »4711«, sagte er triumphierend. »Auch du, Brutus. Guck nicht so erstaunt. Dein Vater hat immer eine Nase wie ein
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