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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
Autoren: Stefanie Zweig
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Erde, die selbst eine steinalte Frau noch nicht erlebt hat.«
    »Wenn du dich heute noch ein einziges Mal als alte Frau bezeichnest«, sagte Fritz, »verlassen sowohl Fanny als auch ihr Vater das Haus. Du hast ja überhaupt keine blasse Ahnung, was es heißt, alt zu sein. Im Übrigen essen jetzt wieder alle Leute Eier. Deutschlands Hühner sind erwacht. Bei jedem Ei, das sie legen, gackern sie für Erhardt und die Demokratie.«
    Seit der Währungsreform vom 20. Juni 1948 und mit der Einführung der Deutschen Mark hatte sich das tägliche Leben auf einen gewaltigen Schlag verändert. Nicht nur im Hühnerstall. Für die neue, harte Währung trennten sich Deutschlands Bauern auch bereitwillig von ihren Gänsen, Rindern, Schweinen und Schafen. In den drei Westzonen gab es wieder Fleisch, Kartoffeln, Gemüse und Obst. Konfitüre, Schinken, Wurst und Käse standen auf den Frühstückstischen. Das quittengelbe, bittere Maisbrot war bereits vergessen. Es gab Weißbrot, Brötchen und Kuchen. Am Tag, als die Deutsche Mark eingeführt wurde, hatte der Direktor der Wirtschaftsverwaltung der Bizone, Ludwig Erhard, für die drei Westzonen die Aufhebung der Rationierung von über vierhundert Waren angekündigt. Bis zum Herbst waren die endlich satten Verbraucher an Schaufenster voller Würste, an Sahnetorten in den Cafés und an die aufregenden Schilder »Frische Eier« »Butter« und »Alles ohne Marken« gewöhnt. Es gab Schuhe und Kleidung und auf dem Frankfurter Hauptbahnhof Wein zu kaufen. Frau Metzgerin stand vor der Waage und fragte höflich: »Darf’s ein bisschen mehr sein?« Jedes zugenommene Kilo wurde als Sieg gefeiert – mit Schwarzwälder Kirschtorte und einer Extraportion Sahne.
    Vor zwei Tagen war ein städtischer Kurier mit Schildmütze in die Rothschildallee 9 gekommen und hatte zwei riesige Pakete abgeliefert, die sowohl an »Frau Bertha Luise Sternberg« adressiert waren als auch an »Landgerichtsrat Dr. Friedrich Feuereisen und Tochter Fanny«. Das Land Hessen hatte den jüdischen Bürgern, die den Nationalsozialismus überlebt hatten, von der Firma Rosenthal das berühmte Ess- und Kaffeeservice Maria Weiß für sechs Personen geschickt. Obenauf hatte ein vom Vertreter des Frankfurter Oberbürgermeisters unterzeichneter Brief gelegen.
    »Es ist der Stadt Frankfurt, die ihren jüdischen Bürgern so viel zu verdanken hat, ein tief empfundenes Bedürfnis, Ihnen nach den Jahren von Verfolgung und Leid auf diesem Weg den Neuanfang ein wenig zu erleichtern.«
    »Ein Wiedergutmachungsservice ist das«, sagte Fritz. Er klopfte mit dem Löffel gegen seine Tasse. »Wenn es um Juden geht, kommen nämlich heute selbst ganz honorige Leute auf ganz makabere Ideen. Ja, ich weiß, sie meinen es gut. Nur, ich habe früh begriffen, dass man sich vor Menschen in Acht nehmen muss, die es gut meinen.«
    »Johann Isidor hat immer gesagt: ›Gut machen ist besser als gut meinen.‹«
    Fritz war blass, seine Stimme laut. »Es tut uns leid, dass wir Ihre Frau und Ihren Sohn ermordet haben, verehrter Dr. Feuereisen, aber es war nicht so gemeint«, höhnte er. »Wir hoffen sehr, dass die neuen Teller Ihnen helfen werden zu vergessen. Ganz bestimmt werden sie das, meine Damen und Herren. Neue Teller sind genau das, was ein Jude braucht, um zu vergessen.«
    »Es bringt nichts, alles immer wieder aufzuwühlen. Es ist wahrscheinlich wirklich gut gemeint gewesen. Wir haben ja tatsächlich kein Geschirr.« Betsy legte ihre Hand auf Fritzens Arm. «Ich habe übrigens gelesen, dass unser Oberbürgermeister Kolb selber bei den Nazis in Haft war.«
    »Ich sag’s ja immer, es gab viele anständige Menschen in diesem Land. Schade, dass ich sie damals nicht gekannt habe.«
    Es wurde trotz der Schatten eine Stunde der Zukunftshoffnung. Einen Moment erwog Fritz gar, von der anstehenden Veränderung in seinem Leben zu sprechen, doch wollte er die Entspanntheit des Augenblicks nicht gefährden und beschloss, bis Rosch haschanah zu warten. »Genau eine Woche«, murmelte er, »am 3. Oktober ist Erew.«
    »Und das heißt?«
    »Vorabend. Jüdische Feiertage beginnen immer am Vorabend. Sag nur, das weißt du nicht. Tut mir leid, Fanny. Schau nicht so betreten drein. Du kannst wahrhaftig nichts für das, was du nicht weißt. Dein Vater ist ein taktloser, gefühlloser Idiot. Begleitest du ihn trotzdem zu Rosch haschanah in die Synagoge?«
    Fritz holte die Flasche Danziger Goldwasser aus dem Schrank, die er in Erinnerung an die Kaffeenachmittage seiner Mutter
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