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Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest

Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest

Titel: Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
Autoren: Else Ury
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mal, wie fein das sein wird, wenn ein dicker Brief aus Tübingen kommt. Marlene, Ilse und ich, wir schreiben immer abwechselnd, ja? Und du schickst mir Fotos, damit ich sehe, was für Fortschritte du in deiner Kunst machst. Wenn ich wiederkomme, hast du vielleicht schon ein eigenes Atelier.« So versuchte Annemarie die Freundin aufzuheitern.
    Veras zartes Gesicht aber sah noch bleicher aus als gewöhnlich. »Ein ganzerr Jahrr ist schrrecklich lang fürr mirr«, gab sie mit unterdrücktem Seufzer zurück.
    Die in Polen Gebürtige stand mit der deutschen Sprache, obwohl sie schon jahrelang eine deutsche Schule besucht und obwohl Annemarie ihr Nachhilfestunden erteilt hatte, immer auf Kriegsfuß.
    »Wir sind die acht Tage bis zu meiner Abreise noch recht viel zusammen, Verachen. Du mußt dich für meine einstigen deutschen Lektionen revanchieren und mir Unterricht in der Handhabung meines neuen Kodaks von Großmama erteilen. Dann schicke ich dir von jedem Ort, den ich kennenlerne, Aufnahmen.«
    Annemaries munterem Geplauder konnte Veras niedergedrückte Stimmung nicht standhalten. Den Rest derselben tilgten die lustigen Späße der Brüder und die Berge von Pfannkuchen, die ihr vom Kaffeetisch entgegenlächelten.
    Abends bei der Maibowle, die man dem Wonnemonat vorwegnahm, stieß man klingend auf das Studienjahr der drei Mädchen an. Tante Albertinchen weigerte sich zwar, darauf ihr Glas zu erheben, und Margot Thielen, die ausrief: »Kinder, mir könntet ihr Gott weiß was versprechen, daß ich mit sollte. Gottlob, daß ich hier auf der Kunstgewerbeschule bin und nicht von zu Hause fort muß!« gewann die ganze Sympathie des alten Tantchens.
    Annemarie aber rief lachend: »Natürlich, Tugendschäfchen will in seinem Stall bleiben! Da draußen in der Welt könnte der böse Wolf kommen und es fressen.«
    »Ja, Tugendschäfchen weidet auf der Heimatflur.«
    »Tugendschäfchen« – diesen Beinamen hatten die ausgelassenen Backfische dereinst der braven Margot zugelegt, und sie hatte denselben auch stets mit Humor ertragen. Heute aber, in Gegenwart von Annemaries Verwandten, war Margot dieser Ehrentitel doch etwas peinlich. Großmama, welche die Verlegenheit des jungen Mädchens gewahrte, meinte mit Takt: »Ich wünschte, Annemariechen, du wärst auch solch ein Tugendschäfchen, dann behielten wir dich hier!«
    »Zu meinem nächsten Geburtstag bin ich wieder da, Großmuttchen, schon wegen der Geschenke«, tröstete die Enkelin sie.
    »Wer weiß, wer da noch lebt«, lächelte die Großmama.
    Auch Tante Albertinchen nickte wehmütig vor sich hin, als gelte es einen Abschied für immer von Nesthäkchen.
    Nesthäkchens neunzehnter Geburtstag, der von einschneidender Bedeutung für ihr Leben geworden war, ging vorüber wie jeder andere Tag. Und die Woche, die nun folgte, ging noch viel schneller dahin.
    Ehe man sich’s versah, kam der Tag heran, wo Nesthäkchen aus dem heimatlichen Nest fliegen sollte.

Eine Reise mit Hindernissen
     
    Ein Sonnentag war’s – hell und strahlend. Aber die junge Reisedame blickte gar nicht so strahlend wie sonst in die Welt. Die stand in ihrem Mädchenzimmer mit den hübschen weißen Möbeln und schaute auf jedes Stück, die Zeugen ihrer fröhlichen Kinder- und Backfischzeit, als ob sie sich gar nicht davon trennen könnte.
    Würde die Minna auch ihre süßen, kleinen Kakteenpflänzchen richtig pflegen? Und die Primelchen zwischen den Doppelfenstern? Mätzchen würde gewiß suchend das zitronengelbe Köpfchen nach ihr drehen, wenn eine andere Hand ihm Trink- und Badewasser in den Bauer schob. Und Puck? Als ob das kluge Tier wüßte, daß Nesthäkchen heute dem Vaterhause ade sagen wollte, folgte es ihm auf Schritt und Tritt schwanzwedelnd.
    Sie war doch schon mal ein Jahr in der Fremde gewesen. Vor vielen Jahren, als sie noch ein kleines Mädchen war und nach überstandener Krankheit zur völligen Kräftigung in das Kinderheim an der Nordsee geschickt wurde. Da war ihr die Trennung doch lange nicht so schwer geworden.
    »Lotte, – es ist Zeit, wir müssen gehen.« Mutters Stimme ertönte aus dem Nebenzimmer.
    »Das Taxi ist da!« meldete Minna und belud sich mit Annemaries Handgepäck.
    Mit einem Blick umfaßte Nesthäkchen zum letzten Mal ihr kleines Reich, dann wandte Annemarie den Kopf nicht mehr zurück. Vorwärts ging es nun, dem neuen Studentenleben entgegen.
    Unten vor dem Vorgarten standen sie alle abschiedbereit: Piefke, der Hausmeister, der den neuen Geburtstagskoffer soeben
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