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Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Titel: Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
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nicht hinsehen«, sagte ich mühsam. »Das ist kein Anblick für dich, glaub mir.«
    Mir wurde immer übler. Mein Magen war schon den halben Weg in meinen Hals hinaufgekrochen und sammelte gerade Kraft für den Endspurt. Bittere Galle begann unter meiner Zunge zusammenzulaufen.
    Das schien Judith geradezu als Aufforderung zu verstehen, noch einmal zu Ed und Stefan hinüberzublicken, und als sie mich das nächste Mal ansah, wirkte sie nicht mehr verwirrt, sondern eindeutig wütend. Mit einem einzigen überraschenden Ruck riss sie ihre Hand los und drehte sich herum.
    »Spinner!«, murmelte sie und stiefelte davon.
    Ich ließ sie gehen. Ganz abgesehen davon, dass meine Knie so sehr zitterten, dass ich auf die Nase gefallen wäre, hätte ich versucht, auch nur einen einzigen Schritt zu tun.
    Wenn sie es nicht besser wollte, dann sollte sie eben kriegen, wonach sie verlangte. Schließlich war ich nicht ihr Kindermädchen.
    Ich blickte kurz zu Ed, Stefan und Ellen hin — die drei hatten sich nebeneinander über Flemmings Leiche gebeugt, die mittlerweile wenigstens den Anstand aufgebracht hatte, umzufallen, sodass ich nur ihre gekrümmten Rücken sehen konnte — und wandte mich dann in die andere Richtung.
    Auch Maria war inzwischen hereingekommen, allerdings nur gerade weit genug, um einen Schritt zur Seite und damit Platz für den Wirt zu machen, der immer noch Glas und Spültuch in der Hand hielt, aber ebenfalls nicht ganz eintrat, sondern nur misstrauisch zu uns hereinlugte.
    Wahrscheinlich machte er sich mehr Sorgen um seine Einrichtung als um irgendetwas anderes. Der immer noch erschreckend große, hysterische Teil meiner Gedanken freute sich insgeheim bereits auf das Gesicht, das er machen würde, wenn er sah, was mit seiner kostbaren Tapete geschehen war.
    »Was ist passiert?«, murmelte nun auch Maria. Selbst ihre Stimme klang jetzt irgendwie grau.
    »Etwas Schreckliches«, antwortete ich. »Bleiben Sie draußen. Bitte!«
    Bevor sie eine weitere Frage stellen konnte (was sie gar nicht vorhatte, denn ich sah aus den Augenwinkeln, wie sie herumfuhr und sich an Zerberus vorbeiquetschte, um fluchtartig aus dem Saal zu flitzen, ganz offensichtlich froh, dass ihr endlich jemand sagte, was sie zu tun hatte), atmete ich tief ein, raffte all meinen Mut zusammen und drehte mich herum.
    Gerade zur rechten Zeit, um zu sehen, wie sich Ed aufrichtete und dabei eine komplizierte halbe Drehung vollführte, sodass er mir genau ins Gesicht sah. Er wirkte blass, aber eigentlich nicht besonders erschrocken — aber vermutlich saß der Schock bei ihm ebenso tief wie bei mir.
    Er würde wahrscheinlich noch ein paar Sekunden brauchen, um überhaupt zu begreifen, was er gesehen hatte.
    Seine Stimme klang jedenfalls nicht besonders schockiert, sondern eher wütend, als er mich anfuhr: »Verdammt noch mal, steht da nicht rum wie die Ölgötzen! Ruft einen Krankenwagen!«
    »Einen Krankenwagen?« Selbst in meinen eigenen Ohren klang meine Stimme wie das hysterische Quieken einer alten Jungfer. Einen Krankenwagen? Wir brauchten hier keinen Krankenwagen mehr. Allerhöchstens die Straßenreinigung.
    In Eds Augen blitzte es noch wütender, aber er gab den Versuch auf, weiter mit mir reden zu wollen. Er trat einen halben Schritt zur Seite und wandte sich mit einer befehlenden Geste an den Wirt. »Haben Sie nicht gehört? Wir brauchen einen Arzt, schnell!«
    »Was’n passiert?«, nuschelte der Wirt. Er sah jetzt wirklich ein bisschen besorgt aus. Wahrscheinlich hatte er die Knochensplitter entdeckt, die in der Tischplatte steckten.
    »Telefonieren Sie endlich!«
    Ed schrie nicht wirklich, aber er schaffte es irgendwie, seine Stimme so klingen zu lassen, obwohl er sie nicht einmal hörbar hob. Und es wirkte. Der Wirt machte zwar ein beleidigtes Gesicht, drehte sich aber gehorsam herum und ging, und Ed warf mir noch einen verächtlichen Blick zu und wandte sich dann ebenfalls ab, um sich wieder über die Leiche zu beugen. Stefan und Ellen schirmten den Körper des Toten immer noch vor meinen Blicken ab, aber ich konnte sehen, dass sie irgendwie an ihm herumzufummeln schienen. Vielleicht versuchten sie ja, seinen Kehlkopf wieder dahin zurückzustopfen, wohin er gehörte.
    Nur Judith stand zwei Schritte daneben und blickte mit einer Mischung aus Schrecken und sanftem Interesse auf die entsetzliche Szene hinab. War ich hier eigentlich der Einzige, dessen Magen nicht aus Gusseisen bestand?
    Nicht dass ich es wirklich wollte. Ganz im Gegenteil —
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