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Nebenan: Roman

Nebenan: Roman

Titel: Nebenan: Roman
Autoren: Bernhard Hennen
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sich seine Märchenvorlesung anzuhören. Leichten Schrittes verließ Till den Friedhof. Die grünen Augen, die ihn die ganze Zeit über verborgen aus dem Geäst einer alten Esche beobachtet hatten, bemerkte er auch jetzt nicht.
    *
    Neriella seufzte. Die Welt war doch ein Jammertal! Wie gerne hätte sie Till getröstet. Ihn in ihre Arme geschlossen und zu sich in die Esche gezogen, um ihn alle Sorgen vergessen zu lassen. Seit Monaten schon beobachtete sie ihn. Er war ihr aufgefallen, weil niemand so regelmäßig den kleinen Friedhof besuchte wie dieser Sterbliche mit den verträumten Augen. Anfangs war sie nur neugierig gewesen … Es war ein beliebter Zeitvertreib unter den Feenwesen, die Studenten auf dem Campus der Universität zu Köln zu studieren. Manchmal traf man sich, um über die interessantesten Exemplare zu tratschen. Auch wenn die großen Eckpfeiler Liebe, Intrige, Habsucht und weltvergessener Wissensdurst Konstanten waren, die sich über die Jahrhunderte kaum änderten, so ließ sich nicht bestreiten, dass die Studierenden in den letzten Jahrzehnten immer sonderbarer und zugleich auch amüsanter wurden.
    Die Dryade lächelte gedankenverloren. Hätte ihr vor zwanzig Jahren ein Heinzelmann erklärt, dass es unter den Menschen eines Tages Mode werden würde, ihre Haarfarbe zu kopieren, hätte sie ohne Bedenken ihre Esche dagegen gewettet. Gut, dass es nicht so weit gekommen war! Heute wandelten Grünschöpfe jeder Art über den Campus …
    Nachdenklich strich sie über ihr langes Haar. Bisher hatte ihr das dunkle Efeugrün gut gefallen. Aber in letzter Zeit dachte sie oft darüber nach, wie ihr die Farbe von jungem Gras wohl stehen würde. Sie hatte sogar zwei Mädchen belauscht, die auf einer Parkbank darüber plauderten, wie man die Haarfarbe wechselte. Zunächst brauchte man offenbar ein oder zwei der schmutzigen Papierfetzen, die die Sterblichen Geld nannten, und dann musste man in einen Laden gehen und konnte dort das Geld gegen Zauberpulver tauschen …
    Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Till den Friedhof verließ. Es war an der Zeit, ihm zu folgen! In seinem Zustand mochte er es sich im letzten Augenblick anders überlegen und doch noch zum Rhein gehen. Dieser verfluchte Professor Mukke! Sie sollte ein paar Heinzelmännchen gegen ihn aufstacheln, die seinen Schreibkasten krank machten! Wallerich und sein Freund hatten neulich von allerlei merkwürdigem Zeug gesprochen … Viren, Infektionen … Dass jetzt sogar Maschinen krank werden konnten! Die Welt wurde immer sonderbarer!
    Neriella kletterte zu Marie Antoinette hinüber, die gerade in einer Astgabel döste. »Ich bin für zwei oder drei Stunden fort. Passt du so lange auf den Baum auf? Wenn was ist, findest du mich bei dem Märchenmann …«
    Marie nickte verschlafen. Für ein Eichhörnchen war sie relativ zuverlässig.
    *
    »Hast du ihn dabei?«, fragte Wallerich ungeduldig.
    Birgel sah sich nervös um. Der Heinzelmann war ein wenig pummelig und hatte trotz seiner Jugend schon eine respektable Stirnglatze. »Was willst du eigentlich mit dem Ring?«
    »Du hast ihn also …«
    »Ich hoffe, du wirst keinen Mist bauen, Wallerich. Du weißt, dass ich ihn eigentlich gar nicht …«
    »Nun hab dich nicht so! Sind wir Freunde?«
    Birgel nestelte an seinem breiten Gürtel herum und zog endlich ein kleines Schmuckkästchen hervor. »Hier … Dir ist klar, dass es mich Kopf und Kragen kosten wird, wenn dem Ring etwas passiert!«
    »Sehe ich vielleicht aus wie jemand, dem man nicht trauen kann, Birgel?«
    Der untersetzte Heinzelmann runzelte die Stirn. Wallerich biss sich auf die Lippen. Den letzten Spruch hätte er sich wohl besser verkniffen. Er griff schnell nach dem Kästchen, bevor es sich sein Freund anders überlegte. Eine winzige Feder ließ den Deckel aufschnappen, als Wallerich auf das Schloss drückte. Der Heinzelmann fühlte sein Herz schneller schlagen. Nie hatte er einen der sieben Ringe wahrhaftig vor sich gesehen. Es hieß, die Alten hätten sie geschaffen und einst habe man gar Kriege um ihren Besitz geführt. Dann wurden sie dem Volk der Heinzelmännchen überlassen, weil diese als besonders vertrauenswürdig galten. Trug ein Feenwesen einen der Ringe, dann wurde es für Menschen sichtbar. Und zog umgekehrt ein Mensch einen solchen Ring auf einen Finger, dann vermochte er das verborgene Volk zu sehen. Es hieß auch, dass jedem der Ringe noch eine ganz eigene, besondere Macht innewohnte, doch darüber wusste Wallerich nichts Konkretes und
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