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Nebenan: Roman

Nebenan: Roman

Titel: Nebenan: Roman
Autoren: Bernhard Hennen
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Auch wenn die Schneekönigin vertrieben war, zogen Nebenan die ersten Vorboten des Winters ein. Doch in diesem Wald war davon nichts zu spüren. Es schien, als habe ein Zauberer ihn mit dem Frühling geschmückt. Alle Bäume prunkten in üppiger Blütenpracht. Die Luft war erfüllt von Vogelgezwitscher und dem Duft von Flieder und Apfelblüten.
    Der Rabe führte Till auf einen Weg, der dem Studenten mit jedem Schritt vertrauter vorkam. Schließlich erreichten sie eine weite Lichtung, in deren Mitte sich ein mächtiger Baum erhob. Sie hatten jenen Ort erreicht, von dem aus sie erst vor wenigen Tagen in die Welt der Menschen geflohen waren. Neriellas Hain.
    Till schluckte hart. Der Kloß in seinem Hals war zurückgekehrt und einen Moment lang glaubte er an seiner Trauer ersticken zu müssen. Wütend drehte er sich zu dem Raben um. »Warum hast du mich hierher gebracht?«
    »Weil ich sie darum gebeten habe«, erklang eine vertraute Stimme hinter Tills Rücken.
    Der Student war wie versteinert. Er wagte es nicht, sich umzudrehen, aus Angst, es gäbe dort nichts zu sehen. »Ich … ich habe dich sterben sehen«, stammelte er fassungslos.
    »Du hast gesehen, wie ich in deiner Welt vergangen bin, weil dort mein Baum starb. Doch hier lebe ich, solange auch nur ein winziger Splitter vom Herzen meines Baumes weiterbesteht.«
    Der Rabe hatte seinen Kopf schräg gelegt und blinzelte Till zu. »Gähhh zu ihrrrr!«, krächzte er. Dann stieß er sich von seinem Ast ab und erhob sich mit kräftigen Flügelschlägen hoch in die Luft.
    Till sah Gabriela nach, bis sie als winziger, schwarzer Punkt im weiten Graublau des Himmels verschwand. Noch immer wagte er es nicht, sich umzudrehen und sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass Neriella wirklich noch lebte.
    »Jedes der Feenvölker hat seine Geheimnisse.« Ihre Stimme klang jetzt ganz nah. Einen Augenblick glaubte er sogar ihren warmen Atem auf seinem Nacken zu spüren. »Manchmal kommt es vor, dass die Wurzeln des Baumes einer Dryade von Nebenan bis in deine Welt reichen. Und noch seltener entsteht aus diesen Wurzeln ein Trieb, der schließlich zu einem Baum heranwächst. So konnte ich von einer Welt in die andere wechseln, ohne eines der Tore benutzen zu müssen, über welche die Zwergenvölker so eifersüchtig wachen. Und ich konnte diese Reise machen ohne mich jemals weiter als hundert Schritt von meinem Baum zu entfernen. Doch als meine Esche auf dem Friedhof starb, wurde das Band zwischen den Welten zertrennt. So musste ich dort vergehen, doch hier lebe ich noch immer.« Eine zarte Hand legte sich auf Tills Schulter.
    Jetzt endlich wagte er es, sich umzudrehen. Und da stand sie vor ihm, noch immer schön wie an jenem Tag, als er sie berauscht von Pennerfusel zum ersten Mal gesehen hatte. »Ich …« Sein Herz ging ihm über und er versuchte vergeblich seine Gefühle in Worte zu fassen.
    Neriellas blassgrüne Finger streiften sanft über seine Lippen. »Sag jetzt nichts. Ich weiß …«
    Lange lagen sie einfach nur wortlos einander in den Armen, bis ein seltsam quäkender Ton die beiden aufschrecken ließ. Strogow, die Kuriermaus, war auf der Lichtung eingetroffen und blies in ein winziges Posthorn.
    »Dringende Depesche für Till Küster«, verkündete sie mit einer für eine Maus recht stattlichen Stimme. Dann zog Strogow einen etliche Male gefalteten Umschlag aus der Tasche an seiner Seite, grüßte zackig und verschwand im hohen Gras der Lichtung.
    Verwundert öffnete Till das Kuvert. Es trug das Siegel der Universität zu Köln. Ungläubig überflog er die wenigen Zeilen.
    »Was ist das für eine Nachricht?«, fragte Neriella mit leicht schmollendem Unterton.
    »Professor Mukke versichert mir, dass er meine Arbeit neu bewerten wird und er sie in einem ganz neuen Licht sieht. Er schreibt, die Abschlussprüfung sei nur noch Formsache, und bietet mir ein gut dotiertes Stipendium an. Ich glaube, er möchte, dass ich bei ihm promoviere.«
    »Das ist schön.« Sie schien sich aufrichtig für ihn zu freuen. »Was wirst du nun tun?«
    Till lächelte. »Noch vor einer Stunde hätte ich jeden Titel ohne auch nur eine Sekunde zu zögern aufgegeben, um dich nur noch ein einziges Mal wieder sehen zu dürfen. An diesem Gefühl hat sich nichts geändert.« Er zerknüllte das Schreiben und warf es fort. »Was ich will, fragst du? Bei dir sein … Ein Wanderer zwischen den Welten sein. Und ich glaube, ich möchte ein Buch schreiben. Mir spukt da eine verrückte Geschichte im Kopf
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