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Neben Der Spur

Neben Der Spur

Titel: Neben Der Spur
Autoren: Ella Theiss
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Jahrzehnten aus einer alten Laube gerettet, bevor diese in Flammen aufging. Gehört haben Kette und Ohrringe einem Fräulein namens Rosa Blum, das vermutlich im Konzentrationslager Dachau umkam. Die Eigentümerin würde sich sicherlich freuen, wenn eine heute lebende Doppelgängerin von ihr und ein dabei so gutes Kind wie das Fräulein Rosenkranz beides nun trage. – Und er sei sich gewiss, dass die junge Dame ein guter Mensch sei, denn obwohl sie über ein dunkles Kapitel in seiner Vergangenheit Bescheid wisse, habe sie ihn nicht verraten.
    Dunkles Geheimnis? Gudruns Nackenhaare sträuben sich, als der Beamte eine Folie öffnet, ihr einen dicken an sie adressierten alten Briefumschlag überreicht. Grau und grobfaserig ist er, an den Ecken löchrig, als habe ein Holzwurm sich hineinverirrt. Gudrun erinnert sich. So sah Recyclingpapier in den Achtzigerjahren aus. Immerhin ist es haltbarer, als der Ruf ihm nachsagt, denn der Briefbogen darin ist nahezu unversehrt, die Druckertinte blass, aber lesbar. Ein in weißes Seidenpapier samt Bastbändchen gewickeltes Päckchen liegt dem Brief bei.
    Mainz, 2. Juli 1986
     
    Meine allerliebste Gudrun,
    nun werde ich bald fünfundsiebzig Jahre alt und ich fürchte, mir bleibt nicht mehr viel Zeit auf Erden.
     
     
    Nicht mehr viel Zeit? Gudrun ist gerührt. Oh, wie hat er sich da geirrt!
     
    Auch können, wie du weißt, alte Menschen wunderlich werden. Bevor die Erinnerungslücken bei mir einsetzen und ich beginne, Dinge durcheinanderzubringen, will ich diesen Brief und dieses Büchlein meiner Mutter bei einem Notar hinterlegen, denn du sollst, spätestens wenn ich tot bin, wissen, wer dein Onkel war …
     
    Gudrun schüttelt ungläubig den Kopf. Er war um sie, seit sie sich erinnern kann. Wieder fließen die Tränen wie seit Tagen, lautlos und stetig. Sie tupft sich die Augen, liest weiter, erfährt von einem Bruder Helmut, Leutnant der Wehrmacht, der, weil er nach dem Krieg wegen eines Verbrechens gesucht wurde … in die Schweiz floh … um später als der im Euthanasieprogramm der Nazis ermordete Hermann zurückzukehren …
    Sie fährt zusammen, ihr wird kalt und kälter. Tapfer liest sie weiter:
     
    Allerdings habe ich das, was man mir zur Last legt, nicht wirklich begangen. Da es keine lebenden Zeugen mehr gibt, sieh bitte in dem anliegenden Büchlein nach, was deine Großmutter im Mai 1943 notiert hat. Es entspricht der Wahrheit, die wir nunmehr seit Jahrzehnten vor der Öffentlichkeit verbergen. Die Gründe kannst du dir denken …
     
    Gudrun nimmt das Päckchen in beide Hände, betrachtet es unschlüssig.
    Die Rosenkranz sitzt mit hochgezogenen Schultern neben ihr und mustert die Kappen ihrer Turnschuhe.
    »Sie wissen, was hier drinsteht?«, fragt Gudrun.
    Ein Nicken, ein Seufzen, ein unsicherer Blick. Die Mitarbeiterin, die soeben Schmuck im Wert eines Halbjahresgehalts geerbt hat, begleitet Gudrun hinaus ins Freie. Sie finden eine Parkbank, wo niemand mithören kann.
    Natürlich weiß Karo nicht, was in diesem speziellen Haushaltsbüchlein von Luise Hepp stehen mag. Aber auch Mädchen, die beschlossen haben, von nun an gute Mädchen zu sein, bleiben neugierig. Und da Gudrun Hepp offenbar fließend Sütterlin kann …
    Was Luise Hepp allerdings für Dienstag, den 4. Mai 1943 im üblichen Chronistenstil berichtet, überzieht Karo mit Scham. Wieder mal hat sie falsch kombiniert, wieder mal lag sie mit ihren Recherchen daneben. Zögernd trägt die Chefin vor:
     
    Gestern war der Tag, an dem Helmut zurück an die Front sollte. Statt sich am Bahnhof einzufinden, begab er sich im Morgengrauen, mit einem Bündel Zivilkleidung und einigen Reichsmark im Gepäck, zunächst hinüber zur Laube, in der Hermanns Versuchsküche untergebracht ist. Dort aber hatte Hermann unterdessen die fünfköpfige Familie Blum versteckt, um bei passender Gelegenheit mit ihr ins Ausland zu fliehen.
    Vermutlich war es Helmuts Wehrmachtsuniform, die die Panik auslöste. Die beiden Blum-Brüder schlugen ihn nieder und rannten über die Kohlfelder.
    Unser Vater war Helmut gefolgt, wohl weil er argwöhnte, sein Sohn könnte desertieren. Als er sah, was geschehen war, nahm er Helmuts Gewehr auf und schoss auf die Flüchtigen.
    Hermann und ich erwachten, rannten zum Gartenhaus, kamen aber zu spät. Heinrich hatte Wolfgang Blum tödlich getroffen, den Bruder Joachim sowie die Mutter schwer verletzt. Hermann geriet außer sich, schlug auf seinen Vater ein und würgte ihn, bis dieser bewusstlos umsank.
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