Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nayidenmond (German Edition)

Nayidenmond (German Edition)

Titel: Nayidenmond (German Edition)
Autoren: Sandra Gernt
Vom Netzwerk:
den Kodex. Dieser Gedanke weckte ihn aus der Trance, in die er sich versetzt hatte. Sein Verstand sagte ihm, dass er einen Fehler beging, wenn er sich gegen die beiden stellte. Sein Instinkt trieb ihn, den Jungen zu retten, bevor es zu spät war. Ruckartig stand er auf, packte Jarne, der gerade zu einem Stock gegriffen hatte, am Handgelenk, hielt ihn eisern fest, während er ihm die Schlagwaffe entwand und ins Feuer warf.
    „Es reicht“, sagte Iyen laut. „Es ist nicht unser Auftrag, ihn zu töten. Es verstößt gegen den Kodex, ein Opfer leiden zu lassen.“
    „Das gilt für das Töten eines Opfers“, widersprach Bero.
    „Der Kodex sagt: Ein Opfer soll nicht mehr als vermeidbar leiden müssen. Er sagt nichts darüber, ob damit Tod, Folter oder Befragung gemeint ist. Wir sind keine Ältesten, die den Kodex interpretieren dürfen. Jarne, du sagtest, dass du ihn nicht zu stark misshandeln willst. Vermutlich hast du nun unseren Auftrag gänzlich zunichte gemacht.“ Bero und Jarne musterten ihn abschätzig, zuckten dann aber die Schultern und erhoben sich.
    „Wer übernimmt die erste Wache?“, fragte Bero sachlich, als hätte er gerade lediglich eine Waffenübung beendet. In seinem Ton schwang etwas mit, das deutlich sagte: ich schon mal nicht.
    „Geht schlafen, ihr beide, ich bin noch munter“, sagte Iyen. Jarne blickte ihn forschend an, bis Iyen hinzufügte: „Ich habe nicht vor, ihn gnädig zu töten. Wenn offensichtlich wird, dass er im Sterben liegt, werde ich euch wecken.“
    Jarne nickte ihm zu. „Ob und wie es weitergeht, entscheiden wir morgen früh. Falls er sich erholen sollte, reiten wir zum Nasha-Tal.“
    Es dauerte noch eine endlose Weile, bis die Männer sich das Blut abgewaschen und schlafbereit gemacht hatten. Iyen legte Holz nach, damit das Feuer nicht erlosch, vermied dabei jeden Blick auf den Gefangenen, der keinen Laut mehr von sich gab. Geduldig wartete er eine Viertelstunde lang, nachdem die beiden sich niedergelegt hatten, bis er sich sicher sein konnte, dass sie fest schliefen. Dann erst kniete er neben Rouven nieder, legte ihm die Decke über und hob ihn hoch. Der junge Mann stöhnte gequält, als er bewegt wurde, warf den Kopf hin und her, ohne dabei aufzuwachen. Zum Glück rührten sich auch seine Kampfgefährten nicht. Er wusste selbst nicht, warum er so heimlich vorging; es war eigentlich selbstverständlich, dass er den Gefangenen versorgte. Für gewöhnlich wusste er immer genau, warum er etwas tat oder unterließ, es war geradezu beängstigend, was hier mit ihm geschah. Zweifel standen ihm nicht zu. Mitgefühl noch weniger. Ein Oshanta kannte nur seinen Auftrag!
    Sein Leid berührt mich. Seltsam. Was macht ihn anders?
    Rouven wimmerte leise und riss ihn damit aus seiner Verwirrung.
    „Nein …“, flüsterte er.
    „Ruhig!“, zischte Iyen und brachte ihn eilig zum Fluss zurück. Der Mond war mittlerweile aufgegangen, seltsam groß prangte er am wolkenlosen Himmel, und auch der grünliche Schleier war wieder da. Sein Licht tauchte die Welt in milden Glanz, der alle Dinge weich zeichnete, selbst das erstarrte Grauen im Gesicht seines Opfers. Iyen durchschnitt ihm die Handfesseln, legte ihn nieder und untersuchte die zahllosen Wunden, die den Körper überzogen. Es war selbst mit der Laterne zu dunkel, um sicher zu sein, doch Iyen gelangte zu dem Schluss, dass keine der Verletzungen für sich genommen tödlich war; lediglich viele und grausam schmerzhaft. Er steckte den Dolch weg, den er bereitgelegt hatte für den anderen Fall – er hätte Rouven ohne zu zögern von seinem Leid erlöst und morgen früh dann Jarnes Zorn auf sich genommen. Es war keineswegs sicher, dass er auch nur die nächste Stunde überleben würde, einen Grund, ihn umzubringen, gab es deshalb noch nicht.
    Der Einfachheit halber ließ Iyen den jungen Mann in den Fluss gleiten und im kalten Wasser untertauchen, um das Blut und alle anderen Spuren seines Martyriums abzuwaschen. Rouven erwachte davon, schnappte keuchend nach Luft, wehrte sich schwach gegen Iyens Griff, als dieser ihn wieder herauszog und in die Decke wickelte.
    „Nein“, wimmerte er leise, starrte panisch zu ihm hoch.
    „Ich tue dir nichts“, brummte Iyen und hob ihn auf. „Keiner tut dir noch etwas heute Nacht. Schlaf, solange du kannst, morgen geht es weiter.“ Er meinte eigentlich die Weiterreise, zu spät wurde ihm klar, wie Rouven die Worte deuten könnte.
    „Nicht“, stieß der junge Mann hervor und begann lautlos zu weinen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher