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Naturgeschichte(n)

Naturgeschichte(n)

Titel: Naturgeschichte(n)
Autoren: Josef H Reichholf
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schwieriger wird, den amtlich festgelegten Abschussplan zu erfüllen, und schließlich die Naturfreunde, weil die großartigen heimischen Wildtiere fast gar nicht mehr zu sehen sind. Hirsche werden unter solchen Verhältnissen von den Waldbesitzern wie riesige Ratten betrachtet, die den Wald zerstören, die Jäger gelten als blutrünstige Lustmörder, die das ohnehin zum Nervenbündel heruntergekommene Tier töten, und die auf ihre Weise die Waldeslust als » flow« erlebenden Natursportler sind für alle die großen Randalierer. Wer kann den gordischen Knoten lösen, der sich über Jahrzehnte geschnürt hat? Kein Plan, keine Politik, sondern eine einzige Kraft namens »Guter Wille«! Alle Beteiligten müssten diesen aufbringen.
    Alle Beteiligten, das sind wir alle, auch jene, die nicht in den Wald gehen, gern Wildfleisch essen, aber am liebsten von Wildfarmen aus Neuseeland, und die wir Steuern zahlen, mit denen Land- und Forstwirtschaft alimentiert werden. Also haben wir auch alle das Recht, daran mitzuwirken, dass in den Wäldern und Fluren in unserem Land alle leben können, die Land- und Forstwirte, die Naturbesucher, auch die, die es eilig haben und die mit sich beschäftigt sind, wie jene, die mit Muße kommen und beglückende Erlebnisse mitnehmen möchten.
    » Wald vor Wild« ist sicherlich nicht die Meinung der Bevölkerung; es ist eine Parole, die nur eine einflussreiche Teilgruppe im Waldgesetz berücksichtigt. Richtig müsste es heißen: » Wald und Wild und Menschen!«. Dann müsste keiner mehr von den anderen » angeschossen« werden.

Das schönste Geweih
im ganzen Land
    Sind Hirsche wirklich
solche Angeber?

    Ein Kronleuchter auf dem Kopf, was für ein Wahnwitz für einen Waldbewohner, und ein sehr schwerer noch dazu. Wie kommt die Natur nur dazu, so etwas hervorzubringen? Darwin nannte den Vorgang » sexuelle Selektion«. Im Klartext heißt das » Damenwahl«. Was geht in einer Hirschkuh vor, wenn sie sich für so ein Schaustück entscheidet? Und es zu züchten! Denn » sexuelle Selektion« bedeutet, dass die Hirschkühe jene Hirsche bevorzugen, die das größere Geweih tragen. Die Erbanlagen dazu geben sie an ihre Söhne weiter. Entsteht da nicht zwangsläufig ein Teufelskreis von immer größer, immer gewaltiger – und immer hinderlicher? Irgendwann bleibt er zwischen den Bäumen stecken, der Hirsch mit dem größten Geweih, und der Wolf braucht nur zuzubeißen. Führt die Damenwahl nicht zwangsläufig in die Sackgasse?
    Die klare Antwort ist: » Nein!«. Denn sonst gäbe es Hirsche und andere » Angeber« längst nicht mehr. Genug Zeit verstrich, in denen die natürlichen Feinde diese Schwächen hätten ausnutzen können. Hirsche gibt es nicht erst seit ein paar Tausend, sondern seit Hunderttausenden von Jahren. Allein die Tatsache, dass sie überlebt haben, ist Beweis genug, dass ihr Geweih nicht so hinderlich sein kann, wie es aussieht. Nur weil Männer so ein Ding nicht mit sich herumtragen möchten, muss es nicht gleich schlecht sein. Nur unpassend für uns. Aber der Mensch muss es ja nicht tragen. Dafür lässt er sich tragen, wenn er besonders angeben möchte. In früheren Zeiten übernahmen Untergebene und Sklaven diese Ego-Beförderung, heutzutage teure, schnelle Autos.
    Doch immer, wenn sich Ähnlichkeiten mit dem Menschen oder gar Übereinstimmungen mit seinem Verhalten aufdrängen, empfiehlt es sich, vorsichtig und besonders kritisch zu sein. Das Leben richtet sich nicht nach uns. Wir sollten auf andere Erklärungen gefasst sein, die mit dem Leben der anderen und nicht mit unserem übereinstimmen. Der Hirsch ist so ein Fall mit seinem Geweih. Es ist ein Statussymbol. Es entstand durch Damenwahl.
    Dass die Wählenden weiblichen Hirsche » Kühe« genannt werden, ist eine der Unzulänglichkeiten unserer Sprache, die zudem mit abwertenden Vorurteilen über Intelligenz verknüpft sind. Denn es sind die Erfahrungen alter Hirschkühe, die das Rudel erfolgreich durch die Jahre führen, nicht die Stärke große Geweihe tragender Hirsche. Diese interessieren sich nur während der Brunftzeit für das weibliche Geschlecht ihrer Art, den Rest des Jahres nicht. Deshalb werden sie nach Merkmalen gewählt, die aus unserer menschlichen Sicht durchaus vernünftig sind.
    Ein kurzer Überblick über das Leben der Hirsche im Jahreslauf gibt uns die zum Verständnis des Geweihs nötigen Anhaltspunkte. Es entsteht jedes Jahr neu. Nachdem das alte Geweih im Spätwinter abgeworfen wurde, fängt sehr schnell
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