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Naturgeschichte(n)

Naturgeschichte(n)

Titel: Naturgeschichte(n)
Autoren: Josef H Reichholf
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offensichtlich stärker als die Hirschkühe selbst. So direkt wirkt die sexuelle Selektion also gar nicht. Wirkt sie überhaupt? Sicher tut sie das. Nur anders, als wir meinen.
    Die Hirschkuh schaut sich den Hirsch nicht an und zählt die Spitzen an seinem Geweih. Für sie sind Alter des Hirsches und seine Kondition wichtiger. Aus dem Alter geht hervor, dass er lange genug überlebt hat und somit fit ist. Aus der momentanen Stärke, dass er hier und jetzt auch gesund ist. Doch damit ist das Geweih eigentlich überflüssig geworden. Alt genug und gesund kann man – ganz allgemein ausgedrückt – doch auch ohne Geweih sein. Genau das ist der entscheidende Punkt, in der Deutung vorsichtig zu sein. Weil sich Jäger gern mit einem kapitalen Rothirschgeweih (an der Wand) schmücken, muss dieses nicht der entsprechenden Bevorzugung von Hirschkühen zu verdanken sein. Es ginge auch ohne.
    Wäre dem so (gewesen), hätte sich tatsächlich eine Spirale hochschrauben können, die aus kleinen Geweihen immer größere machte, weil diese bevorzugt wurden, bis sie wirklich hinderlich geworden wären.
    Es gibt einen ganz anderen Zusammenhang, den wir uns ansehen sollten, um hinter das Geheimnis des Hirschgeweihs zu kommen. Den Weg weist das Geweih. Es besteht aus derselben Substanz (Kalziumphosphat mit dem » Knochenkitt« Kollagen), aus dem die Knochen bestehen. Während im Körper der Hirschkuh das Kalb heranwächst und ein festes Knochenskelett bekommt, mit dem es kurz nach der Geburt auf eigenen Beinen stehen kann, wächst dem Hirsch das Geweih. Es entspricht ungefähr dem Gewicht der Knochen des Hirschkalbes bei der Geburt und dem Zuwachs, den es als Jungtier über die Muttermilch erhält.
    Noch einfacher ausgedrückt: Was die Hirschkuh ins Kalb investiert, geht beim Hirsch ins Geweih. Wie das Kalb mit der Geburt vom Mutterleib getrennt wird, löst sich das Geweih vom Körper des Hirsches. Lediglich die Zeiten sind etwas verschoben. So sehr aber auch wieder nicht, wenn wir das Säugen des Kalbes mit berücksichtigen. Dann durchlaufen Schwangerschaft und Versorgung des Kalbes ziemlich genau das Jahr, das den Zyklus des Hirsches zwischen Abwurf der Stangen, Neuentwicklung und Einsatz zum Kampf während der Brunft ausmacht.
    Die Hirschkuh investiert aber mehr als nur Kalziumphosphat und Knochenkitt in ihr Kalb. Es bekommt von der Mutter während der Entwicklung vor der Geburt all jene Stoffe, die den Weichkörper bilden. Diesen Anteil steckt der Hirsch Jahr für Jahr in die Verbesserung seiner körperlichen Kondition. Er wird ziemlich genau um jenen Betrag schwerer, der dem Körper des Kalbes und seiner nachgeburtlichen Entwicklung bis zum Abstillen entspricht. So wird der Hirsch schwerer und schwerer, Jahr um Jahr, während die Hirschkuh ihr Gewicht hält, sobald sie ihr erstes Kalb geboren hat.
    Wo das hinführen müsste, braucht man sich gar nicht auszurechnen. Nach wenigen Jahren übertrifft der Hirsch die Hirschkuh ganz beträchtlich, und irgendwann muss Schluss damit sein, immer schwerer zu werden. Dann ist es Zeit, die Gewichtszunahme durch die immer häufigeren und immer länger dauernden Kämpfe zu bremsen und sogar für Monate wieder rückgängig zu machen.
    Die Brunft zehrt so sehr an den Kräften der alten Hirsche, dass sie an Kondition verlieren. Und die nächsten Geweihe an Größe nicht mehr zunehmen. Sie sind der Ausgleich für die Leistung der Muttertiere. Sie sind kein Luxus, und sie wären überhaupt nicht hinderlich, würden die Hirsche nicht ausgerechnet ins Dickicht hineingezwungen, weil die Verfolgungen, denen sie seitens des Menschen ausgesetzt sind, sie so scheu gemacht haben.
    Es gibt Inseln im Nordatlantik, da leben die Hirsche auf völlig baumfreiem Gelände das beste Leben. Wie ihre entfernteren Verwandten, die Rentiere Eurasiens und die Karibus Nordamerikas auch. Bei diesen Tundrahirschen tragen sogar die Weibchen Geweihe. Diese Gebilde sind nämlich für andere Zwecke durchaus sehr nützlich. Mit den bei Rentieren besonders ausgebildeten, nach vorne gerichteten Sprossen, den in der Jägersprache Augsprossen genannten Geweihverzweigungen, schieben sie Schnee weg.
    Generell hilft das Geweih aber, Feinde, die an den Flanken anzugreifen versuchen, abzuhalten. Das seitlich ausladende Geweih ist eine gute Seitenpanzerung gegen Wölfe; am besten wirkte es wahrscheinlich beim Riesenhirsch. In einer Zeit, in der Hirsche mit Wölfen nichts mehr zu tun haben, ihre Geweihe aber fast ausschließlich nach den
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