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"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: "Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Autoren: Michael Sontheimer
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veröffentlicht. Das Leben Ulrike Meinhofs ist in vier Büchern ausgeleuchtet. 4 Die Standardwerke zur Geschichte der RAF haben enzyklopädische Ausmaße angenomen: Stefan Aust schildert die ersten sieben Jahre der Gruppe in vielen Details auf 896 Seiten. Butz Peters erzählt die gesamten 28 Jahre auf 863 Seiten.Willi Winkler braucht dafür auch noch 528 Seiten.

    Dieses Buch dagegen ist eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion. Es ist eine Einführung und Zusammenfassung zugleich, denn mit 220 Seiten kann es keine lückenlose Chronik sein. Erzählt werden die wichtigsten Ereignisse; der Schwerpunkt liegt auf den entscheidenden Akteuren. Nur am Rande geschildert wird die Geschichte der Politiker und Polizisten, die gegen die RAF gekämpft haben. Kaum erzählt wird die Geschichte der Opfer. Der Fokus liegt auf denen, ohne die es den blutigen Konflikt nicht gegeben hätte; auf denen, die ihn begonnen haben und von denen viele in ihm zugrunde gingen.

    Mühe habe ich auf die grundlegende Aufgabe der Historiker verwendet, die Fakten zu ermitteln und zu überprüfen. Eine entscheidende Hilfe war mir hierbei Bertolt Hunger, der auf die RAF spezialisierte Dokumentar des SPIEGEL. Die schlichte Klärung der Tatsachen ist umso wichtiger, als die etablierten Chronisten der Bundesrepublik die RAF als unerfreuliche Fußnote sehen und ihr wenig Aufmerksamkeit schenken. So schrieb zum Beispiel der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker in seinem preisgekrönten Standardwerk »Geschichte der Bundesrepublik Deutschland«, die RAF habe das »Konzept des bolivianischen Revolutionärs Carlos Marighella« angewendet - der in Wirklichkeit Brasilianer war - und »im Sommer 1970« mit Anschlägen begonnen - in Wahrheit tat sie das erst zwei Jahre später, im Mai 1972. 5

    Die meisten Bücher über die RAF kranken an der Einseitigkeit ihrer Quellen: Ihre Autoren stützen sich fast ausschließlich auf Dokumente von Polizei und Justiz, die naturgemäß parteiisch und oft fehlerhaft sind. Bei meinen langjährigen Recherchen über die RAF habe ich hingegen versucht, auch mit möglichst vielen ehemaligen Mitgliedern der Gruppe ins Gespräch zu kommen und ihre Sicht der Ereignisse in Erfahrung zu bringen. Dieser Ansatz ist deshalb schwierig und nur bedingt erfolgreich, weil die Mehrzahl der ehemaligen RAF-Mitglieder prinzipiell nicht mit Journalisten oder Wissenschaftlern spricht. Andere gaben gleichwohl in Hintergrundgesprächen Auskunft.

    Bemüht habe ich mich um eine akkurate Darstellung der Ereignisse und um eine sachliche Wortwahl. Das moralische Scheitern und die Verworfenheit der Terrorgruppe ist so offensichtlich, dass sie nicht mehr betont werden müssen. »Die dauernd wiederholte rein moralische Empörung über die Verbrechen ist ebenso selbstverständlich wie irrelevant«, schrieb Carolin Emcke, Patenkind des von der RAF ermordeten Bankiers Alfred Herrhausen. »Empörung allein fördert weder Wissen noch Verstehen.« 6

    Dieses Buch soll sowohl einen Überblick geben als auch Einblicke in die Entwicklung der drei Generationen der Gruppe gewähren. Es verbindet neue Erkenntnisse über die RAF mit dem Versuch, alte Fragen zu beantworten. Es ist für Experten und Neulinge des Themas gleichermaßen geschrieben. Sein Thema ist ein politisches Phänomen, bei dessen Geburt vor vierzig Jahren eine der bekanntesten Journalistinnen der Bundesrepublik ankündigte: »Und natürlich kann geschossen werden!« 7

    Berlin, im Februar 2010

Kapitel 1

    Der Sprung in die Finsternis

    Die Pflastersteine in der Miquelstraße haben an den Rändern Moos angesetzt. Hinter einer Tanne und Birken versteckt liegt eine geräumige Villa mit weißen Sprossenfenstern und grünen Fensterläden. Nichts deutet im noblen Südwesten Berlins darauf hin, dass Geschichte geschrieben wurde in dem Haus mit dem spitzen Giebel und der Nummer 83. Doch hier nahm am Vormittag des 14. Mai 1970 der dramatischste Konflikt der westdeutschen Gesellschaft seinen Anfang.

    Zeugen historischer Ereignisse erinnern sich oft an das Wetter. Hans Joachim Schneider, Mitarbeiter des »Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen« hielt später fest: »Es war ein besonders schöner, warmer Frühlingstag. Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel. Die Vögel zwitscherten, und in dem großen Garten blühten die ersten Blumen.« Der »blasse junge Mann« im Lesesaal der Bibliothek, schrieb Schneider, sah »sehr harmlos« aus. Er war hinter einem hohen Stapel von Büchern versteckt.
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