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"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: "Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Autoren: Michael Sontheimer
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»Er rauchte, während er sich ab und zu Notizen machte, etwas hektisch eine Zigarette nach der anderen.« 1

    Bei dem blassen Mann handelte es sich um den 27 Jahre alten Strafgefangenen Andreas Baader. Er verbüßte eine dreijährige Haftstrafe wegen »menschengefährdender Brandstiftung«. Am selben Tisch saß, ebenfalls heftig rauchend, die Journalistin Ulrike Meinhof. Mit ihr arbeitete Baader angeblich an einem Buch über »randständige Jugendliche«. Zum Recherchieren in der Bibliothek hatte der Leiter der Haftanstalt Berlin-Tegel eine Ausführung genehmigt. Baaders Anwalt Horst Mahler hatte den Anstaltsleiter bedrängt; der Verleger Klaus Wagenbach hatte einen Autorenvertrag aufgesetzt. Nun saßen zwei bewaffnete Wachtmeister, die Baader begleiteten, im Lesesaal. »In leicht scherzendem Ton« fragte der Institutsangestellte Schneider die beiden uniformierten Beamten, »ob sie sich nicht langweilten«. Sie stimmten »nachdrücklich und lachend zu«. Auch Baader lachte.

    Den beiden Wachtmeistern soll das Lachen bald gründlich vergehen. Im Vorraum des Instituts warten die Medizinstudentin Ingrid Schubert und die Schülerin Irene Goergens. Gegen elf Uhr öffnen sie die Tür für Baaders Gefährtin Gudrun Ensslin und einen Mann. Die Neuankömmlinge sind maskiert und haben Pistolen in den Händen. Jetzt ziehen auch Schubert und Goergens ihre Handfeuerwaffen. Als sie in Richtung Lesesaal stürmen, stellt sich ihnen der Institutsangestellte Georg Linke in den Weg. Der maskierte Mann drückt eine Pistole ab und trifft ihn in Oberarm und Leber.

    Als das bewaffnete Quartett in den Lesesaal eindringt, schreit eine der Frauen: »Hände hoch, Überfall!« Es kommt zu einem wilden Kampf. Einer der beiden Wachtmeister schafft es, seine Dienstwaffe durchzuladen. Von einem Schuss aus einer Tränengaspistole geblendet, schießt er zweimal daneben.

    Im Kampfesgetümmel sind Baader und Meinhof aus dem Fenster gesprungen, obwohl Meinhof, so war es geplant, auf jeden Fall im Lesesaal sitzen bleiben sollte. Sie sollte so tun, als sei auch sie von der Flucht Baaders überrascht worden. Doch stattdessen laufen die beiden durch die Gärten zu einer Parallelstraße, wo die Freundin des Anwalts Horst Mahler in einem Mercedes wartet. Kurz darauf springt auch das Befreiungskommando in einen Alfa Romeo. Berlin hat die erste Aktion der Gruppe erlebt, die sich bald »Rote Armee Fraktion« nennen wird. Aber niemand ahnt an diesem schönen Tag im Mai, dass die RAF die Bundesrepublik an den Rand des Staatsnotstandes bringen würde.

    Heute wissen wir: Ulrike Meinhofs Sprung aus dem Fenster in der Miquelstraße war der Sprung in die Finsternis der RAF. Nach zwei Jahren im Untergrund und vier Jahren im Gefängnis erhängte sie sich im Mai 1976 in ihrer Zelle im Hochsicherheitstrakt von Stuttgart-Stammheim.

    Ulrike Meinhof als junge Journalistin in der »Konkret«-Redaktion, um 1965.

    »Eine enorme symbolische Relevanz« hat die Historikerin Dorothea Hauser der RAF bescheinigt. Sie führt die nachhaltige Wirkungsmacht der Terrorgruppe darauf zurück, dass diese »die legitimatorischen Grundlagen« von Staat und Gesellschaft berührte. 2 Auf jeden Fall stellte die RAF mit einer in Deutschland seit dem Aufstieg der Nationalsozialisten nicht gekannten Radikalität die westdeutsche Republik und ihr Wirtschaftssystem in Frage. Was den militärischen Angriff besonders unheimlich machte: Die Gründer der Gruppe waren keine unterdrückten Arbeiter, sondern Töchter und Söhne von Akademikern aus der Mitte der Gesellschaft. Es handelte sich bei den meisten nicht um Rebellen aus der deklassierten Unterschicht, sondern um im Wohlstand aufgewachsene Studenten. Susanne Albrecht zum Beispiel war die Tochter eines Hamburger CDU-Politikers und erfolgreichen Anwalts. Doch sie schämte sich für ihre privilegierte Herkunft. Deshalb verriet sie ihre Klasse, sympathisierte mit der RAF und brachte schließlich dem besten Freund ihres Vaters, dem Bankier Jürgen Ponto, seine Mörder ins Haus.

    In der von willensstarken Frauen dominierten RAF spitzte sich eine Auseinandersetzung im westdeutschen Bürgertum zu. Dabei handelte es sich, so der Soziologe Norbert Elias, nicht um die Auseinandersetzung in der einzelnen Familie, sondern um einen »sozialen Generationskonflikt«, der in den 1960er Jahren die gesamte Mittelschicht ergriff. 3

    Über eine soziale Basis für ihren Krieg verfügte die RAF nicht. Es gab noch keine Massenarbeitslosigkeit, und der Kapitalismus
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