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"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: "Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Autoren: Michael Sontheimer
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Holocaust mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. 2

    Die RAF ist ein sehr deutsches Phänomen. In den 1970er Jahren formierten sich in vielen westlichen Industrieländern nach dem Zerfall der Jugend- und Studentenbewegungen terroristische Gruppen. »Aber in Westdeutschland«, stellt die englische Autorin Jillian Becker fest, »wurde die Bewegung vor allem eine gewalttätige Gegenreaktion gegen den totalitären Staat der vorangegangenen Generation.« Becker gab ihrem Buch über die »Baader-Meinhof gang« deshalb den Titel: »Hitler’s Children«. 3

    Niemand konnte am 2. Juni 1967 voraussehen, dass an diesem Tag in West-Berlin eine Eskalation begann, die einen 23 Jahre währenden Krieg der RAF gegen den Staat hervorbringen würde; einen Feldzug, der über fünfzig Menschen das Leben kosten sollte. Erst viel später fanden Wissenschaftler heraus, dass die meisten, die sich der RAF anschlossen, zuvor bei Demonstrationen von Polizisten zusammengeschlagen worden waren.

    »Vier bis fünf Polizisten verprügelten mich«, gab ein Soziologiestudent über seine Erfahrungen am Abend des 2. Juni 1967 zu Protokoll. Er war aus einer »Gruppe, die völlig von Polizei umstellt war, durch Spießrutenlaufen entkommen«. Der spätere RAF-Mann Jan-Carl Raspe versuchte, einem Opfer der Polizeigewalt zu helfen: »Wir trugen den Verletzten, der bewusstlos war, durch die Absperrketten über die Bismarckstraße zu mehreren Sanitätswagen, bis wir einen fanden, der leer war.« 4

    »Die Bullen rannten auf uns zu wie die Wahnsinnigen«, erinnert sich Bommi Baumann. »Sie haben gleich losgeknüppelt, auf Frauen, auf alte Leute, immer sofort auf die Köpfe. Und dann wurden zum ersten Mal auf die Bullen Steine geschmissen.« Baumann zählte 1972 zu den Gründern der mit der RAF konkurrierenden Berliner Stadtguerilla-Truppe Bewegung 2. Juni. 5

    Als die Demonstranten flüchteten, lief ein Kommilitone Gudrun Ensslins, der Germanistikstudent Benno Ohnesorg, 26 Jahre alt, auf einen überdachten Parkplatz unweit der Oper. Seine schwangere Frau hatte es vorgezogen, nach Hause zu gehen. Auf denselben Parkplatz in der Krummen Straße eilte auch der Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras von der Politischen Polizei. Der Sportschütze und Waffenfetischist spionierte seit zwölf Jahren gegen ordentlichen Agentenlohn für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Kurras, so stellte sich erst im Frühjahr 2009 heraus, war einer der wichtigsten Stasi-Maulwürfe bei der West-Berliner Polizei. Unter welchen Umständen er mit seiner Dienstpistole auf Ohnesorg einen tödlichen Kopfschuss abgab, wurde nie vollständig aufgeklärt.

    Hatte Kurras den Studenten etwa im Auftrag der Stasi erschossen? Dafür gibt es keinerlei Indizien oder gar Beweise. Der Richter in dem Prozess gegen Kurras hielt es dagegen für wahrscheinlich, dass Ohnesorg tödlich getroffen wurde, als Polizisten ihn gerade verprügelten. Jedenfalls hörten Zeugen, wie ein Kollege Kurras anherrschte: »Bist du wahnsinnig, hier zu schießen!« - und Kurras darauf antwortete: »Die ist mir losgegangen.« 6

    Am Morgen nach dem Todesschuss an der Oper trat auch ein weiterer Akteur in Aktion, den Ex-Innenminister Gerhart Baum »entscheidend für die Eskalation zum Terrorismus« nennt: Der Axel-Springer-Verlag, der gut zwei Drittel der Tagespresse in West-Berlin kontrollierte. »Wer Terror produziert«, kommentierte die »B.Z.« in grotesker Verkehrung des Geschehens, »muss Härte in Kauf nehmen.« Die »Bild«-Zeitung geißelte »SA-Methoden« der Studenten. Der erschossene Ohnesorg, so Springers Massenblatt, sei »nicht der Märtyrer der FU-Chinesen, sondern ihr Opfer«.

    Studentin Friederike Dollinger mit sterbendem Kommilitonen Benno Ohnesorg, Berlin 2. Juni 1967.

    Fritz Teufel von der Kommune 1, den Polizisten vor der Oper brutal zusammengeschlagen hatten, wurde des schweren Landfriedensbruchs beschuldigt und über zwei Monate in Untersuchungshaft gehalten. Der Todesschütze Kurras musste hingegen keinen einzigen Tag hinter Gittern darben. Er wurde wegen »fahrlässiger Tötung« angeklagt, aber zweimal freigesprochen, weil ihm die Richter »putative Notwehr« zugutehielten. Sie konnten die Aussage von Kurras nicht widerlegen, nach der er behauptete, Demonstranten hätten ihn mit einem Messer angegriffen. »Mein Glaube an die Rechtsstaatlichkeit, an die Unabhängigkeit des Gerichts«, so erinnerte sich später Otto Schily, der an der Oper mit demonstriert hatte, »der ging damals ziemlich
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