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Narzissen und Chilipralinen - Roman

Narzissen und Chilipralinen - Roman

Titel: Narzissen und Chilipralinen - Roman
Autoren: Franziska Dalinger
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Dafür fühlte sie sich viel zu jung. Auch für das Kind. Sie hatte doch noch so viel vor, was sollte sie mit einem Kind? Natürlich war sie vorher auch gegen Abtreibung gewesen. Aber dann ... wenn auf einmal das ganze Leben, das man sich erträumt hat, weggerissen wird wie in einem Strudel, dann wünscht man sich nur noch, man könnte alles ungeschehen machen. Augen zu und durch und von vorne anfangen und tun, als sei nichts gewesen.
    »Und das wäre so ein Fehler gewesen. Ich wusste es in dem Moment nicht, aber Finn schon. Er meint es nur gut«, murmelte sie. »Er wollte mich beschützen – vor mir selber. Damit ich nicht zum Arzt gehe und es wegmachen lasse. Mittlerweile kann ich mir gar nicht vorstellen, dass ich so etwas Schreckliches tun wollte.«
    Mir war kalt, meine Sachen waren nass, ich fühlte mich sterbenselend. Aber darüber hinaus war ich stinkwütend. »Wie bitte? Er hält dich hier fest, damit du nicht abtreibst? Weil ihr eine kleine Familie seid?«
    Weil ich mich so aufregte, hatte ich fast keine Angst.
    Das änderte sich, als Finn am nächsten Tag vorbeikam, um uns Nachschub an Nahrungsmitteln zu bringen. Sobald ich ein Geräusch an der Tür hörte, sprang ich auf und machte mich bereit zum Kampf, dann sah ich die Waffe.
    »Das ist jetzt nicht wahr, oder?«, fragte ich, obwohl ich es mit eigenen Augen sah. »Wo hast du die denn her?«
    Er war ziemlich stolz darauf. »Die hab ich mir schon vor Monaten besorgt, im Winter. Von einem Kumpel in der Werkstatt.« Woher der Kerl die Knarre hatte, erfuhren wir nicht. So genau wollte ich das auch gar nicht wissen. »Ich wusste von Anfang an, dass es mit Bastian und seiner Gang Ärger gibt.«
    »Also, dein Plan ist, dass du auf Tine und euer kleines Baby aufpasst«, stellte ich fest. »Doch ihr Kind ist doch jetzt schon sicher, oder? Es ist gewachsen. Kein Arzt würde mehr eine Abtreibung vornehmen.« Das war blind geraten. »Wann lässt du sie endlich gehen?«
    Seinem Gesicht nach zu urteilen wusste er es nicht. Er hatte keinen Plan. Der Mistkerl hatte überhaupt nicht weitergedacht!
    »Hier ist deine Bibel«, sagte er. Als müsste ich mich auch noch darüber freuen!
    »Sie wird sie lesen, ganz bestimmt«, versicherte Tine, während mir mehr danach war, ihm das Buch an den Kopf zu werfen. Wenn er nur nicht bewaffnet wäre. Es müsste ja nicht allzu schwer sein, ihn zu zweit zu überwältigen, wenn er nicht diese Pistole hätte. Leider würde Tine sowieso nicht mitkämpfen. Sie ist so eingeschüchtert, dass sie nur dasitzt und zittert, sobald er durch die Tür tritt.
    Der Strahl der Taschenlampe wandert über mein Gesicht, dahinter sitzen ein paar Tausend Zuschauer, die ich nicht sehen kann, weil ich geblendet werde. Meine Hand umklammert das Mikro. Ich vergesse, dass es bloß eine Haarbürste ist, während ich singe. Alle Lieder, die ich auswendig kann oder auch nur halb auswendig. Die Lieder der Hopis.
    Der Applaus ist ein bisschen mager, aber egal. Für eine Weile bin ich frei, während ich singe.
    Daniels Lied. »Wohin bring ich meine Dunkelheit, wenn nicht vor dich, mein Gott?«
    Ich bekomme jedes Mal eine Gänsehaut. Vorher hatte ich keinen Schimmer, was diese Worte bedeuten. Sie haben mich berührt, zu Ostern, aber an jenem Tag war alles strahlend hell. Ich wusste nichts von der Dunkelheit. Jetzt weiß ich es. Hier, wo die Lieder so viel mehr bedeuten als jemals zuvor. Hier, wo das Beten so leicht fällt. Wo jedes Bibelwort trifft. Nie zuvor ist mir aufgefallen, wie oft es in der Bibel um Befreiung geht.
    Spirituals passen auch gut. »When Israel was in Egypt’s land ... let my people go.« Das lässt sich richtig gut schmettern.
    »Bravo!«, ruft Tine.
    Danach sitzen wir im Dunkeln, wie meistens, um die Batterie zu schonen, und ich kann spüren, wie sich Tränen in ihren Augen sammeln, obwohl sie weder spricht noch schluchzt. Es ist einfach etwas, das ich fühlen kann. Die Finsternis ist schneidend dick, und die Tränen, geweinte und ungeweinte, fügen einen bittersalzigen Duft hinzu. Ich weiß nicht, welcher meiner Sinne ihn wahrnimmt.
    »Stell dir vor, das ist unsere Bude«, sage ich. »Wir haben sie uns gebaut, aus Decken und Stühlen. Gleich dahinter ist das Zimmer, da sind unsere Eltern, und nachher bringt deine Mutter uns Kekse. Haben wir es nicht super hingekriegt, dass es so dunkel ist?« Wir haben die Decke über uns gebreitet. Dann ist uns nicht so kalt. Die Luft ist zwar schlechter, und, ganz ehrlich, wir beide riechen nicht gerade nach
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