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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln
Autoren: Haruki Murakami
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ohne Umschweife. »Wie soll man denn dabei schlafen?«
    »Aber es ist doch schon halb sieben«, erwiderte er voll ungläubigen Staunens.
    »Weiß ich. Na und? Für mich ist halb sieben Uhr noch Schlafenszeit. Ich kann’s dir nicht erklären, aber so ist es eben.«
    »Geht nicht. Wenn ich auf dem Dach turne, beschweren sich die Leute im zweiten Stock. Hier sind wir über einer Abstellkammer, also kann keiner meckern.«
    »Dann geh auf den Hof. Oder auf den Rasen.«
    »Geht auch nicht. Wa-wa-weil ich kein Transistorradio habe – ich brauch Strom. Und ohne Radio kann man die Radiogymnastik nicht machen.«
    Es stimmte, sein Radio war ein schrecklich alter Kasten mit Netzanschluß. Ich hatte zwar ein Transistorradio, aber es funktionierte nur auf UKW. Na, klasse, dachte ich.
    »Also gut, Kompromiß: du machst deine Gymnastik, aber ohne das Springen. Das ist unheimlich laut. In Ordnung?«
    »Das Springen?« fragte er erstaunt zurück. »Was ist das?«
    »Springen ist springen. Hops, hops. Das eben.«
    »Aber das mache ich doch gar nicht.«
    Mein Kopf begann zu schmerzen. Ich war drauf und dran aufzugeben, aber dann wollte ich meinen Standpunkt doch noch einmal verdeutlichen und hopste auf und nieder, wobei ich die Anfangsmelodie der NHK-Gymnastiksendung sang.
    »Siehst du, das meine ich.«
    »Ach das, ja stimmt. Ist mi-mi-mir gar nicht aufgefallen.«
    »Na also«, sagte ich und setzte mich aufs Bett. »Den Teil läßt du aus. Das andere kannst du von mir aus machen. Nur mit der Hopserei hörst du auf und läßt mich in Ruhe schlafen, ja?«
    »Das geht nicht«, erwiderte er trocken. »Ich kann nicht einfach eine Übung auslassen. Seit zehn Jahren mache ich täglich die Gymnastik, und wenn ich anfange, mache ich automatisch bis zum Ende weiter. Wenn ich was weglasse, ka-ka-kann ich das Ganze nicht machen.«
    Was sollte ich dazu noch sagen? Was hätte ich noch sagen können? Der einfachste und schnellste Weg wäre gewesen, sein verdammtes Radio, wenn er nicht im Zimmer war, aus dem Fenster zu schmeißen, aber dann wäre die Hölle losgewesen. Sturmbandführer gehörte zu den Menschen, die äußerst sorgsam mit ihren Sachen umgehen. Als er mich so sprachlos auf meinem Bett sitzen sah, bekam er Mitleid mit mir.
    »Ach komm, Wa-wa-watanabe, wir stehen einfach zusammen auf und machen die Übungen«, tröstete er mich lächelnd und machte sich auf den Weg zum Frühstück.
    Naoko kicherte, als ich ihr die Geschichte von Sturmbandführer und seiner Radiogymnastik erzählte. Ich hatte die Geschichte gar nicht als Witz erzählt, aber nun mußte ich selber lachen. Ich sah Naoko zum ersten Mal lachen, auch wenn ihr Kichern sogleich wieder erstarb.
    Wir waren in Yotsuya aus der Bahn gestiegen und trotteten auf dem Bahndamm entlang in Richtung Ichigaya. Es war ein Sonntagnachmittag Mitte Mai. Die kurzen Regenschauer vom Morgen hatten bis zum Mittag völlig aufgehört, und ein Südwind hatte die tiefhängenden Regenwolken davongejagt. Das frische Grün der Kirschbäume tanzte im Wind und leuchtete im Sonnenschein. An diesem frühsommerlichen Tag hatten die Passanten ihre Pullover und Jacken ausgezogen und trugen sie über der Schulter oder dem Arm. Alle wirkten glücklich an diesem warmen Sonntagnachmittag. Die jungen Männer auf den Tennisplätzen jenseits des Bahndamms hatten die Hemden ausgezogen und schwangen nun mit freiem Oberkörper die Schläger. Nur zwei Nonnen saßen in schwarzem, winterlichem Habit auf einer Bank, als wäre die sommerliche Wärme nicht bis zu ihnen vorgedrungen, aber selbst diese beiden machten zufriedene Gesichter und plauderten sichtlich mit Genuß.
    Nach fünfzehn Minuten war mein Rücken so naß geschwitzt, daß ich mein dickes Baumwollhemd auszog und im T-Shirt weiterging. Naoko hatte die Ärmel ihres leichten grauen, adrett verwaschenen Sweatshirts aufgerollt. Ich hatte das Gefühl, ich hätte sie schon einmal vor langer Zeit in einem ähnlichen Hemd gesehen, konnte mich aber nicht genau erinnern. Es war nur ein Gefühl. Zu jener Zeit hatte ich noch nicht allzu viele Erinnerungen, die Naoko betrafen.
    »Wie lebt es sich denn so im Wohnheim? Macht es Spaß, mit anderen zusammen zu wohnen?« fragte sie.
    »Weiß nicht genau. Ich bin ja erst einen Monat da. Aber es ist gar nicht so übel. So richtig unerträglich ist eigentlich nichts.«
    Sie machte an einem Trinkbrunnen halt, um einen Schluck Wasser zu nehmen. Danach zog sie ein weißes Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Mund ab, dann
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