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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln
Autoren: Haruki Murakami
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bückte sie sich und band sich sorgfältig die Schuhe.
    »Glaubst du, ich könnte auch so leben?«
    »Mit anderen zusammen?«
    »Ja«, sagte Naoko.
    »Hmm, warum nicht? Alles eine Frage der Einstellung. Es gibt schon einiges Störende, wenn man sich was draus macht. Lästige Vorschriften, großmäulige Typen, Mitbewohner, die um halb sieben Radiogymnastik machen. Aber das ist wahrscheinlich überall so ähnlich. Irgendwie kommt man schon über die Runden.«
    »Wahrscheinlich.« Sie nickte und schien darüber nachzudenken. Erst als sie mich anstarrte, als nähme sie einen seltsamen Gegenstand unter die Lupe, fiel mir auf, wie tief und klar ihre Augen waren. Andererseits hatte ich auch noch nie Gelegenheit gehabt, ihr so tief in die Augen zu schauen. Es war das erste Mal, daß wir beide allein spazierengingen.
    »Hast du denn vor, in ein Wohnheim zu ziehen?« fragte ich.
    »Nein, eigentlich nicht. Ich hab nur überlegt, wie das Leben in einer Gemeinschaft wohl ist. Und außerdem…« Sie biß sich auf die Lippen, offenbar auf der Suche nach den richtigen Worten, die sie aber nicht zu finden schien. Seufzend senkte sie den Blick. »Ach, ich weiß auch nicht, vergiß es.«
    Das war das Ende des Gesprächs. Naoko ging weiter in Richtung Osten, und ich folgte ihr sozusagen auf dem Fuße.
    Fast ein Jahr war vergangen, seit ich Naoko das letzte Mal gesehen hatte. In diesem einen Jahr hatte sie so sehr abgenommen, daß sie kaum wiederzuerkennen war. Ihre früher runden Wangen waren eingefallen, ihr Hals war schlank und zart geworden, und dennoch sah sie nicht hager oder krankhaft abgezehrt aus. Ihre zierliche Gestalt verströmte eine natürliche Gelassenheit, als hätte sie sich so lange in einem langen schmalen Raum versteckt gehalten, bis ihr Körper sich ihm angepaßt hatte. Sie war zudem viel hübscher, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte. Ich hätte ihr das gerne gesagt, aber da ich nicht wußte, wie, hielt ich lieber den Mund.
    Wir hatten uns nicht verabredet, sondern waren uns zufällig in der U-Bahn begegnet. Sie war auf dem Weg ins Kino, und ich wollte ein bißchen in den Antiquariaten von Kanda stöbern – beides nicht gerade unaufschiebbare Vorhaben. Komm, wir steigen aus, hatte Naoko an der Haltestelle Yotsuya vorgeschlagen. Da wir einander eigentlich nichts Bestimmtes zu sagen hatten, war mir ziemlich rätselhaft, warum Naoko diesen Vorschlag machte. Von Anfang an hatten wir kein richtiges Gesprächsthema gefunden.
    Kaum waren wir aus dem Bahnhof heraus, da setzte Naoko sich in Bewegung, ohne zu sagen wohin. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Ich hätte sie natürlich leicht einholen können, aber irgend etwas hielt mich davon ab. Also folgte ich ihr in einem Meter Abstand, den Blick auf ihren Rücken und ihr glattes schwarzes Haar gerichtet, das von einer großen braunen Haarspange gehalten wurde. Wenn sie sich zur Seite wandte, fiel mein Blick auf ein zierliches weißes Ohr. Von Zeit zu Zeit drehte sie sich nach mir um und sagte etwas. Auf einige ihrer Fragen konnte ich leicht antworten, auf andere wußte ich nichts zu sagen. Manchmal verstand ich auch nicht, was sie sagte. Anscheinend spielte es jedoch keine Rolle für sie, ob ich sie hörte oder nicht. Wenn sie gesagt hatte, was sie sagen wollte, drehte Naoko sich wieder nach vorn und marschierte weiter. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß es immerhin ein schöner Tag für einen Spaziergang war.
    Doch Naokos Schritte waren eigentlich zu zielstrebig für einen bloßen Spaziergang. In Iidabashi bog sie nach rechts ab, so daß wir am Graben herauskamen, überquerte die Kreuzung Jinbochō und ging den Hügel in Ochanomizu hinauf, bis wir schließlich in Hongō waren. Von dort folgte sie den Straßenbahnschienen bis Komagome. Nicht gerade ein kleiner Bummel. Als wir in Komagome ankamen, ging bereits die Sonne unter, und eine milde, frühlingshafte Abenddämmerung brach an.
    »Wo sind wir hier?« fragte Naoko. Erst jetzt schien sie die Umgebung wahrzunehmen.
    »In Komagome. Hast du das nicht gewußt? Wir haben einen Riesenbogen gemacht.«
    »Was wollen wir denn hier?«
    »Du bist doch vorgegangen. Ich bin dir einfach nur gefolgt.«
    Wir gingen in einen Soba-Imbiß am Bahnhof, um rasch etwas zu essen. Ich hatte Durst und trank ein ganzes Bier alleine aus. Nachdem wir bestellt hatten, sprachen wir bis nach dem Essen kein Wort mehr. Ich war erschöpft von der Lauferei, und sie hatte die Hände auf den Tisch gelegt und war anscheinend in
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