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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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…?«
    »Nein, das war seine Pflegemutter, Mrs Shepard. Wir haben schon von Deutschland aus telefoniert. Eigentlich sollte ich zu ihnen nach Hause kommen, aber Jakob ist nun doch zu nervös und wir haben ausgemacht, dass wir uns woanders treffen.« Ich musste schmunzeln. »Diese Leute besitzen tatsächlich ein Kino! Kino war in Shanghai das Größte für mich. Meine Freundin Judith und ich haben jeden Cent dafür gespart.«
    »Judith – ist das das Mädchen, das in einem Kibbuz in Palästina lebt?«
    »Israel«, verbesserte ich. »Aber ich vergesse auch noch manchmal, dass es seit ein paar Monaten wirklich einen jüdischen Staat gibt.«
    Das reicht, dachte ich, und wollte wieder zurückfallen in unsere Taktik, Betti links liegen zu lassen, bis sie selber Fragen stellte, als mir einfiel, dass sie genau das soeben getan hatte.
    Plötzlich hörte ich mich vorschlagen: »Warum kommst du nicht einfach mit nach London?«
    »Ich? Wieso denn das?« Betti war genauso verdutzt über den Vorstoß wie ich.
    »Keine Ahnung. Blöde Idee. Wahrscheinlich hast du gar keine Lust, Jakob kennenzulernen – warum auch?«
    Meine Cousine biss sich auf die Lippen. »Vielleicht«, erwiderte sie nach langem Zögern, »hat Bekka ja Lust …?«
    Die Misses Read besaßen einen dicken Kunstreiseführer aus der Vorkriegszeit, und wenngleich zahlreiche Denkmäler und Kirchen nicht mehr standen, man den gewichtigen Reiseführer also beinahe hätte halbieren können, tat, nachdem wir den Bahnhof Liverpool Street verlassen hatten, der Londoner Straßen- und U-Bahn-Plan gute Dienste beim Finden des Stadtteils Camden. Das Kino, das Jakob Fränkels Pflegeeltern gehörte, war klein, aber hübsch; seine Fassade, an der in verschnörkelten Buchstaben der Name Elysée prangte, frisch gestrichen. Erleichtert stellte ich fest, dass die Bomben in London mehr Häuser verfehlt als zerstört hatten.
    Im Foyer fanden wir uns inmitten einer aufgeregten Horde Kinder wieder, die sich vor dem Kassenschalter drängten, um Karten für die Nachmittagsvorstellung eines Disney-Films zu lösen. Einige wenige Erwachsene – ob Lehrer oder Eltern, war nicht zu erkennen – versuchten sich vergebens Gehör zu verschaffen; dazwischen vernahm ich mehrmals Bruchstücke der Stimme, die ich bereits vom Telefon kannte.
    Mrs Shepard saß hinter der Glasscheibe ihres Kassenhäuschens, gab Tickets aus und verkaufte mit der anderen Hand Bonbons und Lakritze an streitende, sich schubsende Achtjährige – ein Job, der auf der Stelle verstehen ließ, wozu die Glasscheibe gut war. Nachdem der letzte junge Kunde zur Saaltür weitergehetzt war, vor der ein Junge, den ich für Jakob hielt, stoisch die Karten durchriss, konnte man Mrs Shepard dabei beobachten, wie sie in ihre Stuhllehne zurücksank und seufzte.
    Bekka und Betti im Rücken, trat ich vor die Glasscheibe und schaute durch das kleine offene Fenster. In der letzten halben Stunde hatte mein Herz spürbar geflattert bei der Vorstellung, Jakob Fränkel gegenüberzutreten. Die Aufgabe, mit Fotoalben und Briefen quasi das Andenken seiner Eltern zu überbringen, hatte über die Jahre etwas Ernstes, Feierliches angenommen, als ob Fränkels selbst mich mit einem letzten Wunsch beauftragt hätten, und ich wusste nicht, wie sie und ich damit fertigwerden sollten, wenn Jakob seinen Eltern gegenüber in einer ähnlichen Stimmung war wie Betti.
    »Ja, bitte?«, fragte Mrs Shepard und ich fühlte mein eigenes Lächeln federleicht werden.
    Nein, dies war nicht Bettis Pflegemutter, die nie von sich hatte hören lassen, die von Anfang an so getan hatte, als wären Tante Ruth und Onkel Erik nicht mehr am Leben. Dies war die warme Stimme vom Telefon, die großzügige Handschrift von so vielen Briefen; dies war die Mutter, die sich selbst aus Fotos herausgeschnitten hatte, damit Fränkels nicht auf den Gedanken kamen, dass jetzt andere zu Jakob gehörten.
    Mrs Shepards Gesicht leuchtete auf, als sie meinen Namen hörte, die Fältchen um ihre Augen verwandelten sich in Sonnenstrahlen. Sie war im Alter meiner Mutter, wenngleich ohne jegliches Make-up, und auf ihrem Kopf saß eine jener strengen Perücken für orthodoxe Ehefrauen, die Mamu zum Wimmern gebracht hätte. Dennoch war ich selten einer schöneren Frau begegnet.
    Mrs Shepard kam aus dem Kassenhäuschen, um uns zu begrüßen. »Wir sind so froh, dass Sie da sind, Miss Mangold! Entschuldigen Sie bitte, dass wir Sie nicht zu Hause empfangen, aber Jakob ist einfach zu aufgeregt und will sich eine
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