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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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wusste es damals noch nicht, aber diese Mischung aus Schuld, Selbstmitleid und Zorn würde meinen Eltern und mir noch oft begegnen, wenn Fremde erfuhren, dass wir Juden waren. Die wenigsten in diesem Land freuten sich über unser Überleben. Wer schaute schon gern den Folgen des eigenen Größenwahns ins Gesicht? Ein Jahr nach unserer Rückkehr hatte Papas Kanzlei nur jüdische Klienten, obwohl sie allen offenstand, Onkel Victor hatte nur jüdische Patienten, und ich hatte mich längst damit abgefunden, dass im Hörsaal die Plätze links und rechts von mir stets unter den letzten waren, die besetzt wurden, seit einer der Professoren, ein Kommilitone von Papa, mit besten Absichten den Fehler gemacht hatte, mich vor allen anderen besonders zu begrüßen.
    Christine blieb ein kleiner Dorn in meinem Herzen. Vielleicht hätte ich zurückgehen sollen, dachte ich, als ich neben Bekka auf der Bank saß. Vielleicht hätte ich zurückgehen und ihr sagen sollen, woran ich mich all die Jahre erinnert habe, wenn ich an sie dachte.
    »Ich verstehe euch nicht«, sagte Bekka. »Wie könnt ihr dort auch nur atmen nach allem, was passiert ist?«
    »Wir waren weit von Deutschland entfernt, während alles passiert ist . Der Rassenhass, den wir mit angesehen haben, richtete sich gegen andere. Das hat die Deutschen in unseren Augen vielleicht nicht ganz so einzigartig gemacht.«
    »Deine Eltern«, sagte sie zitternd, »sind auch nicht nach Lettland verschleppt, an den Rand einer Grube gestellt und erschossen worden.«
    »Aber auch das war ein Grund zurückzukommen, Bekka. Uns haben sie nicht gekriegt, und das sollen ruhig alle sehen. Außerdem mussten wir ganz praktisch denken: Meine Eltern können in ihrem Alter nicht noch einmal von vorn anfangen.«
    Über die Terrasse kam Betti mit einer Gießkanne in den Garten, schöpfte Regenwasser aus einer Tonne, balancierte die Bodenplatten der Gemüsebeete entlang und ließ ein paar Tropfen auf jede Wurzel regnen.
    »Onkel Erik will übrigens nicht in Deutschland bleiben«, sagte ich lauter. »Palästina – oder jetzt Israel – kommt für ihn auch nicht infrage, seit er gehört hat, dass KZ -Überlebende dort nicht selten als Schwächlinge verhöhnt werden, die sich gefälligst hätten wehren sollen. Im Moment träumt er von Kanada, aber ich hoffe nicht, dass er uns wirklich alleinlässt. Was soll ich ohne meinen Lieblingsonkel anfangen? Wir haben wieder zu viert eine Wohnung, wie in Shanghai, von mir aus muss sich jetzt überhaupt nichts mehr ändern.«
    Ich senkte die Stimme. »Und wenn Onkel Erik nicht wäre, könnte Betti von mir aus bleiben, wo der Pfeffer wächst.«
    »Sei nicht gemein. Ich hab dir doch gesagt, dass es nicht ihre Schuld ist.«
    Am nächsten Tag stand Bekka vom Frühstückstisch auf, um das Telefon zu beantworten, und als sie ins Zimmer zurückkam, lächelte sie.
    »Das war Betti. Sie hat mir erzählt, dass sie gestern Abend noch alle Briefe gelesen hat.«
    Ich musste fast nichts mehr tun. Betti folgte uns hartnäckig, selbst zur Verabredung mit Stephen, Bekkas boyfriend . Stephen war ein schlaksiger dunkelhaariger Junge, nicht jüdisch, aber ohne jede Befangenheit mir gegenüber. Es gab mir eine halbe Nacht zu denken, dass ich in ein anderes Land reisen musste, um Gleichaltrige zu treffen, die normal mit mir umgingen.
    »Na, was sagst du?«, fragte Bekka erwartungsvoll, nachdem Stephen uns wieder nach Hause gebracht hatte.
    »Herzlichen Glückwunsch zum Hauptgewinn«, erwiderte ich und versuchte nicht zu zeigen, dass ich, obwohl ich mich ehrlich für Bekka freute, ein wenig neidisch war.
    Meine Freundin lachte. Es war nicht zu übersehen, dass sie und Stephen sehr frisch verliebt, also noch ziemlich überwältigt voneinander waren.
    »In zwei Wochen kommt Thomas aus Cambridge«, verriet sie. »Das wird die nächste kleine Hürde, aber sie werden einander schon gefallen.«
    »Das sage ich schon lange«, brummelte Betti.
    Es dauerte zwei Tage, bis meine Cousine endlich mit mir redete. Nachdem sie kurz vor meiner Abreise ein Telefonat mit angehört hatte, sprach sie mich an.
    »Du fährst noch nach London?«
    »Ja, ich besuche einen Jungen, dessen Eltern wir in Shanghai kannten. Sie sind bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen, zusammen mit seiner kleinen Schwester.«
    »Oje. War er auch dabei?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Jakob war auf dem Kindertransport. Er ist nur ein Jahr älter als du.«
    In Bettis Gesicht arbeitete es. Sie wies auf das Telefon. »War er das eben
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