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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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seine Worte als Großspurigkeit auslegen.
    »Dann sind unsere Familien in der ganzen Welt gestorben«, bemerkte Betti leise. »Jakobs Eltern in Asien, sein Bruder in Afrika, meine Mutter und Schwester in Polen und Bekkas Eltern in Lettland. Nur Ziskas Eltern leben noch, und … und …« Sie errötete. »Und mein Vater«, fügte sie leiser hinzu.
    Jakob stand auf. »Ich habe auch geschrieben«, sagte er, nahm aus einer Schublade eine abgewetzte Kladde, auf der das Wort Diary stand, und legte sie schüchtern vor uns auf den Tisch.
    Ich schlug das Tagebuch auf. Eine große Kinderschrift, die sich im Verlauf des Büchleins veränderte; krakelige, dann immer präzisere Zeichnungen. Ich erkannte ein Haus, einen Blumengarten, einen großen und einen kleinen Jungen. Flugzeuge, aus denen schwarze Kugeln fielen, und einen Anderson-Shelter. Den großen Jungen in Uniform. Dann keine Bilder mehr.
    »Meine Pflegeeltern haben es vorgeschlagen, als die Post eingestellt wurde«, erklärte Jakob. »Meine Eltern sollten das Tagebuch bekommen, wenn wir uns wiedersehen.«
    Ich blätterte zu den letzten Seiten und stockte. Das letzte Datum lag keine zwei Wochen zurück. Jakob Fränkel schrieb immer noch an seine Eltern.
    »Wir konnten leider nicht verhindern, dass ich mich kaum an sie erinnere«, gestand er und strich zögernd mit dem Zeigefinger über die Alben. »Aber ich bin wirklich froh über die Fotos. Vielen Dank, dass du sie mir gebracht hast.«
    Er stand auf. »Ich glaube, ich sehe mal nach, ob die anderen wieder hereinkommen wollen«, erklärte er, bevor er sichtlich erleichtert den Raum verließ.
    Betti und ich blieben allein zurück. »Das dürfte der schüchternste Junge sein, den du oder ich je kennenlernen werden«, bemerkte ich, um die Stimmung zu heben, und sah meine Cousine wieder einmal die Farbe wechseln.
    »Ich habe auch etwas geschrieben«, bekannte sie, zog einen Briefumschlag aus ihrer Tasche und hielt ihn mir hin. Auf dem Umschlag stand ein Wort: Papa.
    Ich wog den Brief in der Hand. »Drei Seiten, sehr gut!«
    »Woher weißt du …?«
    »Ich war in Shanghai unsere Postfachverantwortliche. Ich habe so viele Briefe in andere Umschläge gepackt und weitergeleitet, dass ich fürs Porto nie wieder eine Waage brauchen werde. Ich kann auch jederzeit im Post- und Fernmeldewesen anfangen, wenn es mit der Jurisprudenz nicht klappt.«
    Betti grinste. Ich schätzte ihren Brief auf zwanzig Gramm – eine Riesenlast wanderte von ihrer in meine Tasche, und als meine Cousine nach dem Abschied von Jakob und seinen Pflegeeltern zwischen Bekka und mir zurück zur U-Bahn ging, steckte ein solcher Schwung in ihr, dass ich sie beinahe zu einem Wettlauf herausgefordert hätte.
    Aber ob ich gewonnen hätte …? Meine eigenen Beine fühlten sich mit jedem Schritt schwerer an. Ja, ich wollte, ich würde wiederkommen, das hatten Bekka und ich einander fest versprochen. Wir hatten uns über all die Jahre, über achteinhalbtausend Kilometer Entfernung nicht verloren, also würde es ganz gewiss auch in Zukunft nicht passieren.
    Doch während der drei Tage in England war eine Frage in mir immer lauter geworden: Warum fuhr ich überhaupt wieder – und wohin? Bekka hatte ihre Eltern verloren und doch ein Zuhause gefunden, Menschen, die zu ihr gehörten, Boden unter den Füßen. Meine Eltern, Onkel Erik und ich hingegen waren zwar zusammen, doch immer noch in der Fremde. Um Berlin wieder zu einem Zuhause zu machen, brauchten wir mehr als ein Dach über dem Kopf, und mit jedem Schritt, der mich zurück nach Deutschland brachte, fiel es schwerer zu glauben, dass es uns gelingen würde.
    Auch Bekka war aufgewühlt. »So unglaublich nette Leute!«
    Noch nachdem wir aus der U-Bahn gestiegen waren und auf den Bahnhof zugingen, konnte sie sich kaum beruhigen. »Ich war gar nicht traurig, dass du mit Ziska gegangen bist, Betti. Habt ihr das auch schon mal erlebt …? Auf Menschen zu treffen, von denen man das Gefühl hat, man kennt sie sein Leben lang? Ich habe viel zu viel geredet, aber sie waren einfach beide so …«
    Sie brach verlegen ab. »Ich weiß, ich weiß. Ich habe eine Schwäche für anderer Leute Mütter, das ist mir schon klar. Aber Mr Shepard fand ich genauso hinreißend. Sie haben mich eingeladen, sie wieder zu besuchen. Das sollte ich unbedingt annehmen, was meint ihr?«
    »Unbedingt«, antwortete ich. »Ich bin schon lange überzeugt, dass es keine Zufälle im Leben gibt. Auf manche Leute muss man einfach treffen, das ist
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